Nochmals Putin: Wahlergebnisse und Agenda der vierten Amtszeit

Die Abstimmung über Wladimir Putin und seinen Kurs fiel bei der Wahl zu seinen Gunsten aus. Dennoch ist klar, dass Putin in seiner vierten Amtszeit als Präsident (2018–2024) eine Reihe von Problemen angehen muss.

Die nächsten sechs Jahre bleibt Wladimir Putin russischer Präsident. Das ist das hauptsächliche Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom 18. März 20181. Der diesjährige Wahlkampf fand vor einem ganz anderen Hintergrund statt als jener von 2012. Die Wahlen 2012 waren von einer eher holprigen Rückkehr für Wladimir Putin (vom Premierminister zum Präsidenten) überschattet, sowie einer konservativen Wende in der russischen Politik, und standen im Kontext der gegen die Regierung gerichteten Proteste vom Winter 2011/2012.

Die diesjährigen Wahlergebnisse spiegeln eher das Muster der Parlamentswahlen von 2016 wieder. Auch die Präsidentschaftswahlen führten zu politischer Hegemonie. Wladimir Putin ist mit einer Zustimmungsrate von 76 % als klarer Sieger aus ihnen hervorgegangen, während die machthabende Partei Vereinigtes Russland 2016 eine verfassungsändernde Mehrheit gewann. Der hauptsächliche Unterschied liegt in der Tatsache, dass die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen deutlich höher war: 67 % gegenüber 45,8 % bei den Duma-Wahlen.

Der Wahlkampf selbst hat sich als typischer Wahlkampf in einem kompetitiv-autoritären Regime gestaltet, mit einigen Verwerfungen im politischen Wettbewerb.2 Derartige Wahlen sind verhältnismäßig frei, aber nicht fair. Am deutlichsten wurde das im zweispurigen Wahlkampf. Der Amtsinhaber hat seine eigene Kampagne geführt, während alle anderen Kandidat_innen ihren eigenen Weg gingen, mit einer gewissen Trennung von Putin, dem sie nie in Fernseh- oder öffentlichen Debatten gegenübertraten.

Das heißt auch, dass die Wahl zwei verschiedene Dimensionen hat. Die erste ist die politische Arena, in der sich sieben Kandidat_innen um die Präsidentschaft beworben haben. Die zweite ist die staatliche, in der Putin als ein Staatsmann wahrgenommen und dargestellt wird, der politische Differenzen und programmpolitische Konflikte und Kritik überragt.3 Sein Wahlslogan hat das recht gut gezeigt: „Starker Präsident – starkes Russland!“ (Ergo: „Putin ist der Präsident.“)

Letzten Endes konnte sich keiner der gegen ihn antretenden Kandidat_innen als tragfähige Alternative zu diesem Bild Wladimir Putins positionieren. Insofern war die Wahl eher ein Plebiszit mit einer grundlegenden Frage: „Bist du für Putin oder gegen ihn?“ Entsprechend hat die Präsidentschaftswahl ein polarisiertes Ergebnis hervorgebracht und einen entpolitisierten Putin mit etwa 76 % der Stimmen als Hegemon bestätigt. Sogar in den Metropolen wie Moskau und Sankt Petersburg waren Putins Ergebnisse mit etwa 70 % hoch. Auf der de facto russischen Krim hat Putin ein Rekordergebnis erzielt – den offiziellen Wahlergebnissen zufolge haben über 90 % für ihn gestimmt. Außerdem ist bemerkenswert, dass Putin 99 % der Auslandswahlbüros gewonnen hat. Am wenigsten Unterstützung (etwa 55-65 %) hatte er in einigen Teilen Sibiriens und im Fernen Osten Russlands.

Die Kandidat_innen

Putins sieben Gegenkandidat_innen konnten nur 22,24 % der Stimmen auf sich vereinen, also weniger als ein Drittel. Werfen wir einen kurzen Blick auf diese Kandidat_innen:

Pawel Grudinin war als Kandidat der Kommunistischen Partei eine Überraschung. Er sollte den Kommunistenführer Gennady Sjuganow ersetzen, der nach den erfolglosen Parlamentswahlen 2016 mit einer Führungskrise zu kämpfen hat. Die Partei ist seit der Dumawahl geschwächt (sie hat 2016 etwa 6 % verloren) und Sjuganow wollte seinen Ruf nicht riskieren und dann, wie von einigen Meinungsforscher_innen vorhergesagt, nur den dritten Platz belegen. Grudinin war sowohl für die Kommunistische Partei als auch für Sjuganow persönlich ein Außenseiter. Damit ist er keine Bedrohung im innerparteilichen Machtkampf. Als Unternehmer im Bereich Landwirtschaft war Grudinin daran interessiert, sein eigenes politisches Profil zu schärfen, um bei zukünftigen Gouverneurswahlen in der Region Moskau antreten zu können.

Wladimir Schirinowskis Rolle ist dieselbe wie immer. Er war ein Spoilerkandidat für Protestwähler_innen, die die sehr schwache liberale Opposition Russlands nicht unterstützen wollten. Allerdings wird er sogar von den Unterstützer_innen seiner Partei als für das Präsidentenamt ungeeignet angesehen, was sich in seinem Wahlergebnis widerspiegelt. Vermutlich waren das seine letzten Präsidentschaftswahlen.

Xenija Sobtschak war die einzige Frau unter den Kandidaten. Sie stand für eine der vielen Stimmen der liberalen Opposition Russlands. Sobtschak hat die Wahlen genutzt, um sich von einem Medienstar in eine liberale Politikerin zu verwandeln.4 Zum Nachteil wurde ihr ihre wahrgenommene politische Unerfahrenheit. Das zweite Problem war ihr liberales Profil im Allgemeinen (und im Besonderen die Aussage, dass die Krim „illegal besetzt“ sei).

Der Liberale Grigori Jawlinski und der Nationalist Sergej Baburin sind beide Politiker aus der Vergangenheit; der Höhepunkt ihrer Karrieren lag jeweils in den 90ern. Das ist in sich keine sehr gute Ausgangsposition. Ihre Ergebnisse sind zu vernachlässigen. Maxim Suraikin von den Kommunisten Russlands war den Wähler_innen weitgehend unbekannt. Zuletzt ist der wirtschaftsfreundliche Boris Titow in seiner Kampagne ausdrücklich loyal gegenüber Putin, was auch ein taktischer Nachteil war.

Ergebnisse5:

Kandidat

Partei

Stimmen

In %

Wladimir Putin

Unabhängig

56.206.514

76,66 %

Pawel Grudinin

Kommunistische Partei

8.648.147

11,80 %

Wladimir Schirinowski

Liberal-Demokratische Partei Russlands

4.151.063

5,66 %

Xenia Sobtschak

Bürgerinitiative

1.236.145

1,68 %

Grigori Jawlinski

Jabloko

765.122

1,04 %

Boris Titow

Wachstumspartei

555.189

0,76 %

Maxim Suraikin

Kommunisten Russlands

498.575

0,68 %

Sergej Baburin

Russische Volksunion

477.903

0,65 %

Gesamt:

 

 

99,84 %

Die Abstimmung über Putin und seinen Kurs fiel bei der Wahl zu seinen Gunsten aus. Dennoch ist klar, dass er in seiner vierten Amtszeit als Präsident (2018–2024) eine Reihe von Problemen angehen muss. Eines der grundlegenden ist die Tatsache, dass Putins Wahlkampagne auf der Grundlage einer geopolitischen Agenda mobilisiert hat, während seine echte Agenda für die nächsten sechs Jahre hauptsächlich innenpolitisch und sozioökonomisch ist.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die drei miteinander in Zusammenhang stehenden Schwerpunkte:

  1. Beziehungen zum Westen
  2. Sozioökonomische Entwicklung
  3. Nachfolge

Beziehungen zum Westen

Wladimir Putins dritte Amtszeit war geprägt von der Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. 2014 hat sich diese Beziehung in eine der zunehmenden Konfrontation und des Wettbewerbs verwandelt, begleitet von einem rapiden Vertrauensverlust. Russland hat sich gegenüber dem Westen als konservative Macht dargestellt, die militärische Dimension seiner Souveränität betont und klargestellt, dass es bereit ist, seine nationalen Interessen zu verteidigen – und zwar nicht nur im postsowjetischen Bereich (Ukraine), sondern auch im strategisch bedeutsamen Nahen Osten. Im Westen begegnete man dem mit Angst vor der „russischen Aggression“ und mit einer Politik der Eindämmung Russlands. Das Ergebnis war nicht nur eine Konfrontation, sondern der Ausschluss Russlands aus dem euro-atlantischen Raum und damit einhergehend die Abwendung Russlands von der sogenannten „liberalen Ordnung“, die der Westen als ihr Hegemon gern wahren möchte.

Das postsowjetische Russland ist eine große Militärmacht, aber es hat auch viele strategische Schwächen in den Bereichen Wirtschaft, technologische Innovation und kulturelles Prestige. Eine lange und andauernde Konfrontation mit dem Westen, eine Ausweitung bzw. Vertiefung der westlichen Sanktionen und die Isolierung Russlands sind ganz sicher nicht im russischen Interesse. Putin muss darauf abzielen, die Konfrontation einzudämmen, um sich Bewegungsspielraum zu sichern. Die Beziehungen zum Westen sind für die russische Entwicklung im derzeitigen Wirtschafts- und Finanzsystem von grundlegender Bedeutung, das, einigen Anzeichen einer alternativen Architektur zum Trotz, weitgehend von den USA und ihren westlichen Alliierten dominiert wird.

Sozioökonomische Entwicklung

Die russische Gesellschaft war an der Gestaltung ihrer Zukunft zuletzt nur passiv beteiligt. Tatsächlich hat die russische Wirtschaft stagniert, mit keinem oder nur sehr geringem Wachstum, sinkenden Realeinkommen und sich zuspitzenden sozialen Ungleichheiten6, während sie sich an die neue Realität des niedrigen Ölpreises und der Militarisierung des Budgets angepasst hat. Entsprechend hat Medwedews Regierung neue und recht radikale Budgetkürzungen unter anderem im Bildungs- und Gesundheitswesen und im sozialen Bereich eingeführt. In einem Land wie Russland bedeutet das effektiv eine Abkehr von Humankapital, das bereits von seiner sowjetischen und postsowjetischen Vergangenheit aus der Bahn geworfen wurde. Eine unabhängige Meinungsstudie hat kürzlich gezeigt, dass die russische Gesellschaft sich einen Wandel wünscht, auch wenn dieser Wunsch nicht sehr spezifisch ist.7 Nichtsdestotrotz ist klar, dass die Bereiche Soziales, Wohlfahrt, Bildung und Lebensqualität oberste Priorität haben, selbst wenn sie vorrangig durch ein paternalistisches Prisma betrachtet werden (dass also der Staat sich für die Menschen interessieren sollte).

Dieser Trend bzw. diese gesellschaftliche Stimmung wurden in Putins Rede vom 1. März deutlich angesprochen. Er erwähnte, dass dem Humankapital und der gesellschaftlichen Entwicklung politische Priorität eingeräumt werden sollte, denn Russland sei eine stabile Gesellschaft, deren Sicherheit jetzt garantiert wäre. Dieses neue Narrativ entsprach den Erwartungen der Masse, selbst wenn der zweite, militärische Teil derselben Rede diese Botschaft seines mobilisierenden Charakters wegen ein wenig verwischt hat, in dem es um geopolitische Fragen und solche der Sicherheit ging. Und doch passt es auch zu Putins außenpolitischen Ambitionen. Kurz: Er muss die ewig neue Frage beantworten, wie man trotz einer schwachen Wirtschaft und einer Gesellschaft in der sozialen bzw. demografischen Krise und Stagnation eine Großmacht darstellen kann. Putin zufolge ist es kein äußerer Feind, sondern die russische Unterentwicklung, der Verzug im Vergleich zu den (westlichen) innovativen Gesellschaften, von denen die innere Bedrohung ausgeht.

Es gibt zwei grundlegende Aufgaben zu lösen. Das erste ist die Wegentwicklung des russischen Wirtschaftsmodells vom immer noch bestehenden „Ölstaat“ und der Abhängigkeit vom Ölpreis und dem anderer Rohstoffe. Hier ist das zugrundeliegende Problem die politische Ökonomie des Regimes, die zu weiten Teilen auf der Umverteilung von Öl- und Gaseinkünften durch den Staat beruht und durch den Staat auf die Mitglieder der oligarchischen Elite. Die zweite Aufgabe ist der Kampf gegen den chronischen Mangel an Kapitalinvestitionen, die Offshorisierung und die Kapitalabwanderung – typische Probleme von Volkswirtschaften an der Peripherie.

Letztendlich muss es Putin gelingen, die Grenze zwischen Stabilisierung und Stagnation sauber zu ziehen, ein weiteres typisches Dilemma konservativer russischer Politik, wie wir sie aus der russischen und sowjetischen Geschichte kennen. Sein Erfolg wird hauptsächlich auf seiner Fähigkeit beruhen, die paternalistischen Wünsche der Mehrheit zu befriedigen, insbesondere hinsichtlich der sozioökonomischen Leistungen, der staatlichen Unterstützung, der Renten und so weiter.

Nachfolge

Das russische politische System ist extrem personengebunden. Es beruht auf einem demokratischem Modell, das allerdings von informellen Beziehungen („Parapolitik“) und einer autoritären politischen Kultur geprägt ist. Daraus folgt, dass die Suche nach einer_m Nachfolger_in ein vordringliches Problem ist. Der derzeitigen Verfassung nach kann Putin 2024 nicht wiedergewählt werden.

In der russischen und sowjetischen Geschichte lässt sich ein Muster beobachten: Machtwechsel werden von schweren politischen Krisen oder Aufruhr begleitet. Besonders gravierend waren die Probleme im 18. Jahrhundert und in den 90ern des letzten Jahrhunderts, als gleichzeitig ein Wechsel des politisch-ökonomischen Systems stattfand. Entsprechend steht Putin vor der Aufgabe, einen Weg für eine reibungslose Machtübergabe 2024 zu finden, oder genauer, Russland auf ein Leben und eine Politik ohne Putin vorzubereiten.

Das Problem der Nachfolge ist derzeit ungelöst und sein Ausgang nur schwer vorherzusagen. Im Allgemeinen sind drei Szenarien denkbar, wenn man unvorhersehbare Möglichkeiten wie einen Regimewechsel ausschließt.

1. Das „chinesische“ Szenario: Putin bleibt im Amt, die Verfassung wird angepasst. Das vertagt die Frage der Nachfolge, löst das Problem aber nicht.

2. Eine Regierungsreform: Putin verändert das derzeitige System in Richtung einer stärker kollektiven und institutionalisierten Entscheidungsfindungsstruktur und bleibt für die Übergangszeit im Hintergrund tätig.

3. Ein neuer Nachfolger erscheint: Putin wählt einen Nachfolger, bereitet ihn vor und führt ihn als seinen Nachfolger ein, während er für die Übergangszeit im Hintergrund tätig ist.

Alle drei Szenarien bringen Risiken mit sich und hängen mit vielen miteinander in Verbindung stehenden Faktoren zusammen. Unter anderem sind das a) die Wahrnehmung innerer und äußerer Bedrohungen (Stabilität als Faktor), b) die Beziehungen innerhalb der regierenden Elite und ihren Fraktionen sowie deren Wahrnehmung des Status quo und c) die sozioökonomische Situation im Land.

Anmerkungen:

1. Das Datum hat eine gewisse symbolische Bedeutung, am 18. März 2014 hat Russland die Krim annektiert.

2. Siehe Levitsky Steven-Way, A. Lucan, Competitive Authoritarianism. Hybrid Regimes after the Cold War, Cambridge University Press: Cambridge-New York 2010.

3. Politcom.ru: Президентские выборы в России: основные выводы, http://politcom.ru/22943.html.

4. Es sollte erwähnt werden, dass Xenia Sobtschak die Tochter von Putins Mentor Anatoli Sobtschak, dem Bürgermeister von Sankt Petersburg, ist.

5. Siehe Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation: http://www.cikrf.ru/analog/prezidentskiye-vybory-2018/itogi-golosovaniya/ (Ergebnisse veröffentlicht am 21/03/2018).

6. Ильин, В.А. «Капитализм для своих» – источник социального неравенства в современной России [Текст] / В.А. Ильин // Экономические и социальные перемены: факты, тенденции, прогноз. – 2017. – № 6. – C. 9-23. – DOI: 10.15838/esc.2017.6.54.1 (Ilyin V., A. Kapitalizm dlya svoih – istochnik socialnogo neravnenstva v sovremennoy Rossiyi).

7. Andrei Kolesnikov/Denis Volkov: The Perils of Change. Russians’ Mixed Attitudes Toward Reform, http://carnegie.ru/2018/02/06/perils-of-change-russians-mixed-attitudes-toward-reform-pub-75436.