Zur sozialen Reproduktion und der Covid-19-Pandemie – 7 Thesen

Die Analyse des Marxist Feminist Collective.

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These 1

Der Kapitalismus stellt Profite über Leben: Das wollen wir umkehren

Die aktuelle Pandemie und die Reaktion der herrschenden Klasse darauf illustrieren auf deutliche und tragische Weise die Idee im Zentrum der sozialen Reproduktionstheorie: Dass Leben stets als weniger wichtig erachtet wird als Profite.

Die Eigenschaft des Kapitalismus, sein eigenes Lebensblut herzustellen – Profit – hängt direkt von der täglichen "Produktion" von Arbeiter_innen ab. Das bedeutet, dass er von lebensgenerierenden Prozessen abhängig ist, die er nicht vollständig und direkt kontrollieren und beherrschen kann. Gleichzeitig fordert die Logik der Akkumulation, dass die Löhne und Steuern, die die Produktion und Erhaltung von Leben unterstützen, so niedrig wie möglich bleiben. Dies stellt den großen Widerspruch im Herzen des Kapitalismus dar. Er entwertet genau jene, die tatsächlichen sozialen Reichtum schaffen: Krankenpfleger_innen, andere Arbeiter_innen in den Krankenhäusern und allgemein im Gesundheitssystem, Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und in Lebensmittelfabriken, Supermarktangestellte und Lieferant_innen, Müllentsorger_innen, Lehrer_innen, Kinderbetreuungskräfte und Altenfachbetreuer_innen. In diesen Berufsgruppen finden sich besonders viele migrantische Arbeitskräfte und Frauen, die vom Kapitalismus durch niedrige Löhne gedemütigt und stigmatisiert werden, und unter gefährlichen Arbeitsbedingen leiden. Die aktuelle Pandemie zeigt, dass unsere Gesellschaft ohne sie nicht funktioniert. Auch Pharmafirmen, die miteinander um Profite konkurrieren und unser Recht auf Leben ausbeuten, helfen unserer Gesellschaft nicht beim Überleben. Es ist offensichtlich, dass die "unsichtbare Hand des Marktes" keine weltweite Gesundheitsinfrastruktur schaffen wird, die jedoch – wie die derzeitige Pandemie zeigt – von der Menschheit dringend gebraucht wird.

Die Gesundheitskrise zwingt das Kapital dazu, sich auf Leben und lebensgenerierende Arbeit wie Gesundheitsvorsorge, soziale Betreuung, Nahrungsmittelproduktion und -verteilung zu konzentrieren. Wir fordern, dass dieser Fokus auch nach dem Ende der Pandemie beibehalten wird, so dass Gesundheit, Bildung und andere lebensgenerierende Aktivitäten dekommodifiziert werden und allen zugänglich gemacht werden.

These 2

Soziale Reproduktionsarbeiter_innen sind systemrelevante Arbeitskräfte: Wir fordern ihre dauerhafte Anerkennung als solche

Die meisten Konsumgüterunternehmen mit einem Mangel an Arbeitskräften erlebten, wie ihre Profite und Aktienkurse jäh einbrachen und fühlen sie sich den lebensgenerierenden Organisationen, Gemeinschaften, Haushalten und Einzelpersonen gegenüber verpflichtet. Angesichts des kapitalistischen Zwangs, Profite über Leben zu stellen, sind solche Organisationen, Gemeinschaften, Haushalte und Einzelpersonen kaum dazu ausgestattet, dieser Herausforderung begegnen zu können. Es geht nicht nur darum, dass Covid-19 Arbeitskräfte im Gesundheitssektor, öffentlichen Verkehr und Lebensmittelhandel sowie ehrenamtliche Helfer_innen schwer strapaziert. Der jahrelang andauernde Sozialabbau im Namen der Austeritätspolitik bedeutet, dass die Kräfte der sozialen Reproduktion heute schwächer sind als früher und Hilfsorganisationen seltener und ebenfalls geschwächt sind.

Wir fordern, dass sämtliche finanziellen Ressourcen und Konjunkturprogramme in lebensgenerierende Arbeit investiert wird und nicht in die Unterstützung kapitalistischer Unternehmen.

Um jahrzehntelange Vernachlässigung in der Krise zu kompensieren, verlagern viele kapitalistische Staaten und Unternehmen derzeit ihre Prioritäten – jedoch tun sie dies nur teilweise und vorrübergehend. Sie schicken Schecks an Haushalte, dehnen die Arbeitslosenversicherung auch auf prekäre Arbeitskräfte aus, weisen Autoproduzent_innen an, anstatt Autos nun Masken und Beatmungsgeräte herzustellen. In Spanien übernahm der Staat vorrübergehend private Krankenhäuser; in den USA verzichten Versicherungsunternehmen auf das Einheben von Selbstbehalten bei Covid-19-Tests. Dies zeigt u.a. wie schnell verfügbar und vielfältig die Ressourcen sind, die die Menschen wirklich brauchen, wenn der politische Wille da ist.

Wir fordern, dass Arbeiter_innen in den sozialen Reproduktionssektoren – Krankenpfleger_innen, Krankenhausreinigungskräfte, Lehrer_innen, Müllentsorger_innen, Lebensmittelhersteller_innen und Supermarktangestellte – auch in Zukunft für die essenziellen Dienstleistungen, die sie erbringen, anerkannt werden. Ihre Löhne, Vorsorgeleistungen und soziale Stellung müssen verbessert werden, sodass dies ihre wichtige Rolle in der Gesellschaft widerspiegelt.

These 3

Rettet Menschen, keine Banken

Unsere Herrschenden verwenden riesige Mengen an Ressourcen zur Rettung von Unternehmen, in der Hoffnung auf diese Weise einen Kollaps der kapitalistischen Werte zu verhindern. Ihre Profite jedoch werden in Wirklichkeit von der Arbeitskraft der Arbeiter_innen in den sozialen Reproduktionssektoren geschaffen. Die CEOs von Hotel- und Restaurantketten, Tech-Giganten und Fluggesellschaften kündigen Millionen von Mitarbeiter_innen, während ihre eigenen gewaltigen Gehälter und Boni unverändert bleiben. Das ist der Fall, weil das kapitalistische System es verlangt, dass der Widerspruch zwischen Leben und Lohnarbeit immer zum Vorteil des Kapitals anstatt des Lebens aufgelöst wird.

Wir fordern, dass sämtliche finanzielle Ressourcen und Konjunkturpakete in lebensgenerierende Arbeit investiert wird und nicht in die Unterstützung kapitalistischer Unternehmen.

These 4

Grenzen öffnen, Gefängnisse schließen

Unter dieser Pandemie leiden Migrant_innen und Häftlinge besonders stark: Menschen, die in Gefängnissen oder Auffanglagern mit schlechten hygienischen Bedingungen festsitzen; Menschen, die keine Dokumente besitzen und im Verborgenen leiden, da sie aus Angst vor Abschiebung keine Hilfe in Anspruch nehmen; Menschen, die lebensgenerierende Tätigkeiten verrichten (im Gesundheits- oder Sozialwesen, Landwirtschaft etc.) und ein höheres Risiko haben, sich zu infizieren, weil sie keine Wahl haben und zur Arbeit gehen müssen (mit schlechter oder keiner Schutzausrüstung); Menschen, die zwischen zwei Ländern reisen und versuchen, ihre Familie zu erreichen; und Menschen, die aufgrund von Einreiseverboten ihr Land nicht verlassen können.

Unabhängig von der Pandemie wird Trump die Sanktionen gegen den Iran aufrechterhalten (wo die Infektionsraten und Todesfälle dramatisch ansteigen). Und weder Trump noch die Europäische Union wird Israel unter Druck setzen, um die Sanktionen aufzuheben, die zwei Millionen Menschen in Gaza den Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Produkten verwehren. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Pandemie stützen sich auf rassistische und koloniale Unterdrückung und verstärken diese noch zusätzlich.

Wir fordern, dass Gesundheit über Migrationsbestimmungen zu stellen ist; dass ein Großteil der Häftlinge sofort freigelassen wird; dass für Kranke ähnlich menschenfreundliche Sanktionen gefunden werden können; und dass Untersuchungsgefängnisse und andere Gefängniseinrichtungen, die auf Disziplinierung anstatt ein besseres Leben setzen, geschlossen werden.

These 5

Solidarität ist unsere Waffe: Nutzen wir sie gegen das Kapital

Die Pandemie hat der Welt gezeigt, wie arbeitende Menschen mithilfe von vielfältigen und kreativen Überlebensstrategien eine Krise meistern können. Für die meisten bedeutet das, sich auf enge Freund_innen und die Familie verlassen zu können. Einige nutzen jedoch auch Nachbarschaftsinitiativen. Für Obdachlose und jene, die die kapitalistische Gesellschaft als Belastung zur Seite schiebt, gibt es Unterstützung durch Freiwillige, die Randgruppen zu nicht weniger als deren Recht auf Leben verhelfen. Nachbarschaften überall in Großbritannien bilden WhatsApp-Gruppen, um mit ihren gefährdetsten Mitgliedern in Kontakt zu bleiben und ihnen dabei zu helfen, an Lebensmittel und Medikamente zu kommen. Schulen versenden Lebensmittelmarken an arme Familien mit Kindern, denen gratis Mahlzeiten zustehen. Lebensmittelbanken und Wohltätigkeitsorganisationen erleben einen Zuwachs an freiwilligen Helfer_innen. Die Definition von Commons im Bereich der sozialen Reproduktion wird immer wichtiger. Wir haben auch aus der Vergangenheit gelernt: Wir werden kapitalistischen Regierungen nicht weiter erlauben, Commons im Bereich der sozialen Reproduktion als Ausrede zu benutzen, um sich selbst aus der Verantwortung zu nehmen.

Als sozialistische Feminist_innen müssen wir noch weiter gehen und zusammen daran arbeiten, dass alle Güter und Dienstleistungen, die für ein gutes Leben notwendig sind, öffentlich zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet, dass Solidarität über die Grenzen der verschiedenen Communitys hinweg, die gleichermaßen betroffen sind, aufgebaut werden muss. Die am stärksten marginalisierten Gruppen müssen unterstützt werden und Gewerkschaften, NGOs sowie Nachbarschaftsorganisationen sollen aushelfen. Der Staat muss soziale Reproduktionsarbeit als den Eckpfeiler der sozialen Existenz anerkennen.

Wir fordern die Regierungen dazu auf, von den Bevölkerungen zu lernen und in ihren Maßnahmen zu reflektieren, was die Menschen unternehmen, um einander zu helfen.

These 6

Mit feministischer Solidarität gegen häusliche Gewalt

Die Lockdown-Maßnahmen, die in den meisten Staaten zur Eindämmung von Covid-19 angewendet werden, haben – auch wenn sie absolut notwendig sind – schwere Auswirkungen auf Millionen von Menschen, die in gewalttätigen Beziehungen leben. Fälle häuslicher Gewalt gegen Frauen und LGBTQ-Menschen begannen sich während der Pandemie zu häufen, da Opfer dazu gezwungen sind, mit ihren gewalttätigen Partnern oder Familienmitgliedern zuhause zu bleiben. Kampagnen, die Menschen dazu auffordern, ihre Wohnungen nicht zu verlassen, klammern die spezielle Problematik der häuslichen Gewalt aus. Besonders besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass in den Jahren des uneingeschränkten Neoliberalismus die finanziellen Ressourcen für Frauenhäuser und Gewaltschutzorganisationen stark gekürzt wurden.

Wir fordern, dass die Regierungen dieses Spardiktat sofort aufheben und den Organisationen in diesem Bereich genügend Finanzmittel zur Verfügung stellen, damit diese ihre Dienstleistungen anbieten und bewerben können.

These 7

Arbeiter_innen in der sozialen Reproduktion haben soziale Macht: Wir können sie nutzen, um die Gesellschaft neu zu organisieren

Diese Pandemie kann und sollte einen Moment für die Linke darstellen, um eine konkrete Agenda vorzulegen, auf welche Weise Leben über Profite gestellt werden kann, damit wir den Kapitalismus überwinden können. Die Pandemie hat uns bereits gezeigt, wie stark der Kapitalismus von Arbeiter_innen in der sozialen Reproduktion abhängig ist – ob diese nun entlohnt oder nicht entlohnt werden, Infrastruktur betrifft, in Krankenhäusern, den Haushalten oder Nachbarschaften verrichtet wird. Wir dürfen sie nicht außer Acht lassen und auch nicht die soziale Macht, die diese Arbeiter_innen haben. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem wir, Arbeiter_innen in der sozialen Reproduktion, ein Bewusstsein für unsere Arbeit entwickeln müssen – in unserem jeweiligen nationalen Kontext, an den Grenzen, die uns trennen und überall auf der Welt.

Wenn wir die Arbeit niederlegen, kommt die Welt zum Stillstand. Diese Einsicht kann die Basis von politischen Maßnahmen sein, die unserer Arbeit Respekt zollen und kann auch die Basis für politische Aktionen darstellen, die die Infrastruktur für eine erneuerte antikapitalistische Agenda aufbaut, in der Leben über Profite gestellt wird.

Autorinnen: Tithi Bhattacharya, Svenja Bromberg, Angela Dimitrakaki, Sara Farris, and Susan Ferguson

Im Original auf der Website der Zeitschrift Spectre (Englisch) erschienen.