Nachruf auf Eric J. Hobsbawm (1917-2012)

Er hatte das „kurze“ 20. Jahrhundert“ um mehr als zwei Jahrzehnte überlebt. Eric J. Hobsbawm war einer der großen Denker, die jenes vergangene Säkulum hervorbrachte. Von der Berufung her Historiker, war er zugleich Geschichtenerzähler und Geschichtsphilosoph. Geschichtsschreibung hat er als Gesellschaftsgeschichte betrieben. Zunächst war „das lange 19. Jahrhundert“ von 1789 bis 1914 sein Thema. Eine seiner Perspektiven war die der Arbeiterklasse. Er verstand sich Zeit seines Lebens als Marxist und war Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens bis zu deren Selbstauflösung 1991.    
Am 1. Oktober 2012 starb Eric J. Hobsbawm in London. Geboren wurde er am 9. Juni 1917 in Alexandria. Er entstammte einer jüdischen Familie, deren Wurzeln im Osten Europas lagen. Vater Percy heiratete während des Ersten Weltkrieges in Zürich Nelly Grün; sie stammte aus Wien. Da sich ihre Heimatländer in einem mörderischen Krieg gegeneinander befanden, übersiedelte das Paar nach Ägypten.
Nach dem frühen Tod seiner Eltern lebte er 1931 bis 1933 bei einem Onkel in Berlin. Diese Zeit nannte er später den entscheidenden Abschnitt seines Lebens. Nach Hitlers Machtantritt folgte er seinen Onkeln nach London, trat dort 1936 der Kommunistischen Partei bei und studierte am King‘s College. Ab 1940 kämpfte er in der britischen Armee gegen den deutschen Faschismus. Danach arbeitete Hobsbawm zunächst am renommierten Birkbeck College der University of London und ab 1971 bis zu seiner Emeritierung 1982 als Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an Londons Universität.
Hernach widmete sich Hobsbawm ganz und gar dem „kurzen 20. Jahrhundert“. Seinen Beginn datiert er mit dem 1914 ausgebrochenen Ersten Weltkrieg, den Abschluss mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 – diese Bezeichnung des 20. Jahrhunderts stammt von ihm. Sein Fazit lautete, dass es die „Tragödie der Oktoberrevolution war, dass sie nur ihre Art erbarmungslosen, brutalen Kommandosozialismus hervorbringen konnte.“ Dagegen gilt, „die generelle Frage des Sozialismus von der Frage der spezifischen Erfahrungen mit dem ‚real existierenden Sozialismus‘ zu trennen. Das Scheitern des sowjetischen Sozialismus sagt noch nichts über die Möglichkeit anderer sozialistischer Formen aus“.
Zeitgleich befasste er sich mit der Rolle des Nationalismus. Sein Buch „Nationen und Nationalismus seit 1780“ erschien 1990. Hier war seine Folgerung, dass die Kämpfe um nationale und soziale Befreiung miteinander verbunden waren. Nachdem jedoch „die Bewegungen, welche die wirklichen Nöte der Armen in Europa zu ihrer Sache machten“, am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 gescheitert waren, eröffnete sich den Mittelschichten der unterdrückten Nationalitäten im Osten Europas die Chance, zu den herrschenden Eliten der neu entstandenen Kleinstaaten zu avancieren. Während die Völker dort ohne Revolution zu nationaler Unabhängigkeit gelangten, war in den großen kriegführenden Staaten die soziale Revolution unausweichlich. In Deutschland, Österreich und Ungarn kam es zu kurzlebigen Räterepubliken, der Nationalismus wurde zum Moment der Gegenrevolution und zum Nährboden für den Faschismus.
Seine Arbeiten der letzten Jahre erschienen unter dem Titel „Globalisierung, Demokratie und Terrorismus“ (2007, deutsch 2009). Zu den Perspektiven der Vorherrschaft der USA stellte Hobsbawm fest, „dass es sich wie bei allen anderen Imperien auch um ein historisch temporäres Phänomen handeln wird.“ Er fürchtete nur, dass der Aufstieg Asiens die Gefahr eines großen Weltkrieges zwischen den USA und China heraufbeschwören könnte (Der Stern, 20/2009). Mag sich mancher dies auch kaum vorstellen wollen, er wusste um die friedensunwilligen Triebkräfte des Kapitals.   
Hans Magnus Enzensberger bemerkte vor einigen Jahren: „Von allen Kommunisten, die das zwanzigste Jahrhundert überlebt haben, ist Eric Hobsbawm der eigensinnigste, souveränste, gelehrteste – und, wenn ich mich nicht irre, auch bei weitem der klügste.“