Nancy Fraser: Die reproduktiven Widersprüche des Kapitalismus

Nancy Fraser, Professorin für Philosophie und Politik an der New School for Social Research in New York, hielt eine Grundsatzrede mit dem Titel „Fürsorgekrise? Zu den sozialen und reproduktiven Widersprüchen des Kapitalismus“ im Rahmen der 10. Nikos-Poulantzas-Gedenkvorlesung in Athen.

Die Veranstaltung wurde mit einem kurzen Beitrag von Dina Vaiou, Professorin in der Abteilung für Stadt- und Regionalplanung an der Nationalen Technischen Universität Athen und Präsidentin des Nikos-Poulantzas-Instituts, eröffnet, die besonders auf die Aktualität des Vorlesungsthemas im derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Kontext hinwies.
Danach präsentierte Maria Karamesini, Professorin für Arbeitsökonomie und Sozialpolitik in der Abteilung für Sozialpolitik an der Panteion-Universität und Vorstandsmitglied des Nikos-Poulantzas-Instituts, die Rednerin und deren Arbeit. Im Zuge ihrer Vorstellung betonte Maria Karamesini, dass Nancy Fraser durch ihre Arbeit, die in der sozialen und politischen Theorie, der feministischen Theorie und sozialwissenschaftlichen Philosophie beheimatet ist, mit ihren Publikationen einen bedeutenden Beitrag sowohl zum theoretischen Dialog, als auch zur politischen Praxis der feministischen Bewegung leistete. Gleichzeitig unterstrich sie Nancy Frasers Engagement für die Kämpfe der Linken und für die Frauenbewegung.
Danach präsentierte Maria Karamesini, Professorin für Arbeitsökonomie und Sozialpolitik in der Abteilung für Sozialpolitik an der Panteion-Universität und Vorstandsmitglied des Nicos-Poulantzas-Instituts, die Rednerin und deren Arbeit: Mit ihren Publikationen leistete Nancy Fraser, beheimatet in der sozialen und politischen Theorie, der feministischen Theorie und der sozialwissenschaftlichen Philosophie, einen bedeutenden Beitrag sowohl zum theoretischen Dialog und zur politischen Praxis der feministischen Bewegung.

Nancy Fraser 

In ihren späteren Arbeiten, zur Mitte der 1990er-Jahre, hatte Nancy Fraser eine Gerechtigkeitstheorie entwickelt, die die Diskussionen und praktischen Ansätze hinsichtlich einer Umverteilung von Ressourcen und Gütern zusammenfasste, wie dies auch in den Kämpfen gegen Ausbeutung und für die Anerkennung der Vielfalt gefordert worden war.
Fraser formulierte ihre Gerechtigkeitstheorie mithilfe von drei Konzepten: Umverteilung, Anerkennung, Vertretung. In ihrer letzten Publikation mit dem Titel „Fortunes of Feminism: From State-Managed Capitalism to Neoliberal Crisis” setzt sie sich kritisch mit der zweiten Welle des Feminismus auseinander und hinterfragt die Gebote der Neuen Linken. Sie geht auch dem Schicksal der radikalen Ideen auf den Grund, die im Rahmen einer Kritik an den Bewegungen, die in den späten 1960er-Jahren überall auf der Welt aufkamen, entwickelt worden waren. 

Das Ungleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion

Nancy Fraser unterstrich in ihrem Beitrag die Bedeutung der jährlichen Nikos-Poulantzas-Gedenkvorlesung. Ihrer Ansicht nach sind wir mit einer Krise der sozialen Reproduktion konfrontiert. Der Kapitalismus habe das Gleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion gestört und nur produktive Arbeit mit Geld bewertet. Es gebe keine Gesellschaft, die eine solche Krise überlebe. Diese sei durch das kapitalistische System selbst angetrieben und könne unmöglich zusammen mit der politischen Krise und der Umwelt- und Finanzkrise gemeistert werden. Die soziale Reproduktion stelle jedoch eine grundlegende Bedingung für den Kapitalismus und die potentielle Anhäufung von Kapital dar. 

Die historische Entwicklung der heutigen Krise

Nachdem Nancy Fraser diesen Widerspruch an der Wurzel der kapitalistischen Krise detailliert dargestellt hatte, erläuterte sie die Entwicklung dieses Widerspruchs über die verschiedenen Phasen des Kapitalismus hinweg: Der liberale Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ging Mitte des 20. Jahrhunderts in einen staatlichen Kapitalismus, der sich wiederum zum heutigen neoliberalen, globalisierten Kapitalismus entwickelte. Das Regime des liberalen, wettbewerbszentrierten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, wo die Ausbeutung der Arbeitenden ihren Ausgang nahm, sorgte dafür, dass sich die Arbeiter_innen „autonom“ außerhalb des Marktes und des Geldverkehrs reproduzierten. So entstand die Spaltung in zwei unterschiedliche Lebenswelten der Geschlechter, wobei den Frauen die alleinige Zuständigkeit für die soziale Reproduktion aufgelastet wurde. Im Regime des staatlichen Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, der auf der flächendeckenden kapitalistischen Produktion und dem Konsum beruhte, in dem die Reproduktion dann bereits internalisiert war, nahm sich der Staat dem Wohlergehen der gesamten Gesellschaft an, und das Ideal der Lohnarbeit entstand. Im heutigen Regime, dem neoliberalen, globalisierten Modell, wurde schließlich die Verantwortung für die Fürsorge auf die lokalen Gemeinschaften und die Familie übertragen, was diese weiter schwächt. 

Unter dem Deckmantel der Emanzipation

Die soziale Reproduktion wird für jene, die es sich leisten können, kommerzialisiert. Für diejenigen, die es sich nicht leisten können, wird das Idealbild der zeitgemäßen Familie mit zwei Erwerbstätigen und zwei Einkommen propagiert. Nancy Fraser konzentrierte sich besonders auf die Konflikte zwischen den Kräften der sozialen Reproduktion, der Ökonomisierung und der Emanzipierung, die den historischen Entstehungsprozess des kapitalistischen Systems und das Bedürfnis nach einer kritischen Analyse des derzeitigen Systems, des neoliberalen Finanzkapitalismus, kennzeichnen. Das aktuelle Regime entzieht großen Teilen der Bevölkerung mithilfe der Austeritätsmaßnahmen Ressourcen und untergräbt damit den Prozess der sozialen Reproduktion, da es den Widerspruch zwischen sozialer und wirtschaftlicher Reproduktion unter dem Deckmantel der Emanzipation ständig verschärft.
So entsteht nach Fraser das Paradox, das sie den „progressiven Neoliberalismus“ nennt, der die Gesellschaft spaltet, indem er den Begriff „Emanzipation“ für neoliberale Ideale missbraucht. Die Neue Linke muss die Unterordnung der sozialen Reproduktion unter die wirtschaftliche überwinden, ohne die Emanzipation und soziale Sicherheit zu opfern. Dies kann nur durch eine Neuorientierung der etablierten gender-spezifischen Ordnung erreicht werden.
Anmerkung: Die 10. Nikos-Poulantzas-Gedenkvorlesung fand am 7. Dezember 2016 im Goethe-Institut in Athen statt.