Der moderne Kapitalismus = eine oligarchische Gesellschaft?

Thomas Piketty, ein Ökonom, der sich seit etlichen Jahren mit dem von Anthony Atkinson und Emmanuel Saez geprägten Feld der Verteilungsverhältnisse in den kapitalistischen Gesellschaften beschäftigt, hat in der Wissenschaft und der öffentlichen Diskussion einen Bruch mit überlieferten Bewertungen und gesellschaftlichen Sichtweisen ausgelöst.

Die »Piketty-Debatte«, so die Bewertung des US-Ökonomen Paul Krugman, läuft auf eine »Revolutionierung unserer Auffassungen von den langfristigen Trends in Sachen Ungleichheit« (Krugman 2014: 71) hinaus.
Diese These besagt nicht, dass mit Piketty alle methodischen und empirisch-theoretischen Fragen der modernen Verteilungsstrukturen gelöst seien, sondern: »Über Reichtum und Ungleichheit werden wir nie mehr so sprechen wie vorher.« (ebd.: 81) Diese Umwälzung eines wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses ist das Resultat einer Präsentation des aktuellen Zustandes und des historischen Wissens hinsichtlich der Dynamik der Verteilung des Reichtums und der Einkommen seit dem 18. Jahrhundert. (Piketty 2014: 571)
Das Schlüsselthema von Pikettys Untersuchungen ist die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung. Er will die Gründe der sozio-ökonomischen Entwicklung aufdecken, die den modernen Kapitalismus mehr und mehr mit einer oligarchischen Gesellschaftsstruktur ausstatten. Mehr als in jedem anderen Land sieht sich die Mehrheit der BürgerInnen der Vereinigten Staaten als eine Nation des Mittelstands. Der Ausdruck »middle class« bezeichnet daher in Amerika, anders als in vielen europäischen Staaten, nicht das Bürgertum (Mittelstand, gehobene Gehaltsbezieher, Freiberufler), sondern eine »mittlere Schicht« von BürgerInnen, die sowohl die Armen als auch die Reichen an Zahl weit übertreffen. Gegenwärtig herrscht die Anschauung vor, dass sich der Traum von der US-Mittelschichtsgesellschaft seit geraumer Zeit in einen Albtraum von der Vernichtung der »middle class« verwandelt habe. Ungleiche Einkommensverteilung, Vermögenskonzentration und Ende der Mittelstandsgesellschaft – wegen dieser Themen ist der französische Ökonom Thomas Piketty zum Bestsellerautor in Amerika geworden, wo seit Jahren reichlich Untersuchungen zur Transformation des US-Traumes vorgelegt wurden.
Piketty verfolgt Kapitalakkumulation und Einkommensverteilung in Westeuropa und den USA vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Großen Krise des 21. Jahrhunderts. Dabei stellt er fest, dass sich die Ungleichverteilung von Einkommen und Kapitalbesitz gegenwärtig auf Werte zubewegt, die zuletzt am Ende des 19. Jahrhunderts erreicht wurden. Die Daten über Vermögens- und Einkommensverhältnisse über 100 bis 200 Jahre sind alles andere als unstrittig.[1] So ist zum Beispiel in den oft verwendeten Steuerdaten der Aufbau von Guthaben in der Altersvorsorge, die für mittlere und untere Schichten prozentual viel bedeutender sind als für die Oberschicht, nicht berücksichtigt. Nicht berücksichtigt ist auch, dass die Steuersenkungen auf hohen Einkommen und Vermögen in diversen Ländern seit 1980 Umgehungsmanöver der Großverdiener reduziert haben dürften. Steuerdaten könnten somit die Zunahme der Ungleichheiten überzeichnen.[2]
Eine zusätzliche Kontroverse ist jüngst durch die Kritik ausgebrochen, wonach Piketty gewisse Daten unangemessen »angepasst«, gewichtet oder interpretiert habe. Auch nach Pikettys zehnseitiger Replik dieser Tage bleiben Fragen offen. Unter dem Strich ist es aber weiterhin plausibel, dass die Einkommens- und Vermögensungleichheiten seit 1980 in vielen Ländern zum Teil deutlich gestiegen sind. »Der Kerngedanke von ›Das Kapital im 21. Jahrhundert‹ besagt, dass wir nicht einfach nur zu Einkommensungleichheiten auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts zurückkehren, sondern dass wir uns auf dem Rückweg in einen ›Patrimonialkapitalismus‹ befinden. In ihm werden die Kommandohöhen der Wirtschaft nicht von begabten Individuen kontrolliert, sondern von Familiendynastien.« (Krugman 2014: 72)
Krugman betont zu Recht, dass die bisherigen Kenntnisse und Einschätzungen über die Ungleichheit der Einkommens- und Reichtumsverteilung sich hauptsächlich auf Umfragen stützen. »Bei aller Nützlichkeit unterliegen Umfragedaten jedoch wichtigen Einschätzungen. In der Tendenz unterschätzen sie die Einkommen jener Handvoll Leute an der oberen Spitze der Einkommensskala, wenn sie diese nicht sogar verfehlen… An dieser Stelle kommen Piketty und seine Kollegen ins Spiel, weil sie eine völlig andere Informationsquelle aufgetan haben: Steuerunterlagen… Piketty et al. … haben nun ganz neue Verfahren entwickelt: sie verknüpfen die Steuerdaten mit anderen Quellen und gelangen so zu Erkenntnissen, welche die Umfrageergebnisse auf entscheidende Weise ergänzen.« (ebd.: 74)[3]
Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte führten zu einer Umkehr der »großen Verdichtung« der 1950er Jahre, als sich die Kluft zwischen Arm und Reich sukzessive verringerte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Ungleichheit in den USA ein Ausmaß erreicht, wie man es seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht mehr kannte. Die USA gleichen immer weniger den Mittelstandsdemokratien Westeuropas und immer mehr einer »oligarchisch« strukturierten Gesellschaft – so wie man es aus Lateinamerika oder dem postsowjetischen Russland kennt, wo sich der Reichtum auf wenige konzentriert, die einer riesigen Unterschicht gegenüberstehen. Studien haben gezeigt, dass über die Hälfte der Gewinne aus dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte an das reichste Prozent der amerikanischen Bevölkerung gegangen ist, weshalb die Occupy-Wall-Street-Bewegung diese neue ökonomische Elite kurzerhand »The One Percent« genannt hat.
Die Generalthese von Pickettys Untersuchungen lautet: Die USA und die meisten modernen kapitalistischen Gesellschaften verändern ihre soziale Gestalt in Richtung einer hierarchischen Ordnung, in der eine kleine Schicht sehr mächtiger und sehr reicher Leute alle wesentlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereiche durch finanzielle, wirtschaftliche und politische Macht dominiert und die eigene Macht auch über weitere Generationen hinweg festigen kann.
Piketty vergleicht heutige Statistiken mit Daten aus dem 19. Jahrhundert und hat so eine Formel gefunden, die seiner Meinung nach den zentralen langfristigen Trend des Kapitalismus erfasst: r > g. Die Rendite auf Privatvermögen (r) ist größer als das Wirtschaftswachstum (g). Ganz ohne Formeln und Zahlen drückt es Piketty so aus: »Das Kapital ist zurück.« (Siehe Abbildung 1.)


In den USA entwickelte sich der Einkommensanteil der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 1910 bis 1940 auf einem hohen Niveau von 40 bis 45% der nationalen Einkommen. In den 1940er Jahren setzte dann ein deutlicher Absturz dieser Einkommensgruppe ein: Zwischen Mitte der 1940er Jahre bis Ende der 1970er Jahre bewegte sich der Einkommensanteil des Top Dezils auf dem vergleichsweise niedrigen Niveau von unter 35%. In verschiedenen Untersuchungen zu den US-Verteilungsverhältnissen wird diese Entwicklungsetappe auch als »große Kompression« charakterisiert. Gemeint ist damit, dass unter den Bedingungen eines starken technologischen Wandels (»skill biased technological change«) durch entsprechende Maßnahmen der Verteilungspolitik für eine Prosperitätsphase des gesellschaftlichen Mittelstandes gesorgt wurde.[4]  Ein Blick auf die Dynamik der Verteilungsverhältnisse der kapitalistischen Hauptländer während des 20. Jahrhunderts zeigt – bei deutlichen Unterschieden in den einzelnen Ländern –, dass in den letzten Jahrzehnten erneut eine Verdichtung oder Verengung der sozialen Ungleichheit auf eine schmale Gruppe von Vermögenden und hohen Einkommensbeziehern feststellbar ist. Piketty hebt als wesentliche Trends für die Rückkehr zu patrimonialen oder oligarchischen Strukturen des Kapitalismus hervor:

  1. An der Spitze der Gesellschaften ergibt sich die vorhandene massive Ungleichheit aus einer Mischung von Vermögenswerten (mit entsprechenden Einkommen) und Arbeitseinkommen.
  2. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war (bei gewissen Einschränkungen im Fall der USA) in erster Linie die Ungleichheit im Besitz von Vermögenswerten für den Zustand der Klassenstruktur verantwortlich.
  3. Auch heute ergibt sich in den obersten Rängen der Gesellschaften eine krasse Ungleichheit aus dem Einkommen aus Kapitalvermögen. Gleichzeitig hat aber das Gewicht der Erwerbseinkommen der obersten Schichten der Gesellschaft für die gesamte Ungleichheit zugenommen.

Die Erklärungen von Piketty für die Dynamik der sozialen Ungleichheit über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg sind nach wie vor strittig. Dies gilt vor allem für die Behauptung, dass in den letzten Jahrzehnten die Returns auf Kapitalvermögen schneller gewachsen sind als die gesamtgesellschaftliche Leistung. Piketty berücksichtigt nicht die Dynamik des wachsenden Angebots an Geldkapital, damit die seit Anfang der 1980er Jahre fallende Zinsrate in ihrer Rückwirkung auf den Preisanstieg bei Wertpapieren und Immobilienvermögen. Außerdem ist mit den Hinweisen auf die Erschöpfung der Produktivitätsentwicklung und das rückläufige Wachstum der Bevölkerung mit Sicherheit die Auseinandersetzung um die Gründe der Abschwächung des Wirtschaftswachstums und eines möglichen Übergangs in eine Phase säkularer Stagnation nicht beendet.
Die Kritik an einer zu oberflächlichen oder pauschalen Betrachtung der verschiedenen Strukturkomponenten der Kapitalakkumulation und damit der Verteilung betrifft auch die Entwicklung der Lohn- und Arbeitseinkommen. Wir sehen im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Aufwärtsbewegung der Masseneinkommen infolge der Steigerung von Organisationsgrad und Einfluss der Gewerkschaften. In den letzten Jahrzehnten hat es dann aber wegen des Rückganges der gewerkschaftlichen Bindung und der Verbindlichkeit von Tarifabkommen einen Niedergang der Lohnquote und eine Aufsplitterung der Lohneinkommen gegeben. Die Strukturveränderungen sowie das höhere Gewicht des Finanzbereichs und der politisch verstärkten Deregulierungspolitik bleiben bei Pikettys Überblick über längere Zeiträume ausgeklammert.
Das Hauptthema von Pikettys Buch sind nicht die Einkommen, sondern die Vermögen. Der Anteil der Vermögen in den Händen der Reichsten ist mittlerweile in den USA größer als in Europa. Die reichsten 10% der Amerikaner besitzen 70%, das reichste 1% besitzt 35% aller Vermögen. In Europa besitzen die reichsten 10% 60% aller Vermögen und das reichste 1% 25%. Vermögen zementieren die ökonomischen und indirekt politischen Machtverhältnisse besonders stark, da sie noch weit weniger als die Einkommen an die Leistungsfähigkeit der Personen gebunden sind und vererbt werden. (Siehe Abbildung 2.)


Das Kapital, also der Wert von Unternehmen, Immobilien, Wertpapieren oder Anleihen, wächst in den letzten Jahrzehnten schneller als die gesamtwirtschaftliche Leistung. Daher haben die Kapitaleigentümer die Lohnabhängigen und auch die Mittelschichten der Gesellschaft abgehängt. Seit Ende der 1970er Jahre endete die Phase der großen Kompression, das Wirtschaftswachstum ließ nach, die Senkung der Steuern verstärkten die Kapitaleinkommen und die Kapitalrenditen explodierten auch wegen der Expansion des Finanzsektors. Das Gewicht des Kapitals nimmt fast überall zu, und dieses Vermögen konzentriert sich weiter in den Händen von wenigen. Das geschieht nicht nur, weil die Reichen oft höhere Renditen mit ihrem Kapital erzielen als die kleinen Sparer, sondern mehr noch, weil die Vermögen an eine sinkende Zahl von Kindern vererbt werden.[5]
Piketty legt in der vorliegenden Untersuchung das Schwergewicht auf die Entwicklung der Kapitalseite. Aber auch er übersieht – wie andere Ungleichheitsforscher – nicht, dass es bei den Ursachen der Verschärfung der Ungleichheit um ein Mischungsverhältnis von Kapital- und Arbeitseinkommen geht. Eindeutig ist, dass an der Spitze der Gesellschaft das Einkommen aus Kapitalvermögen die Einkünfte aus Gehalt und Boni übertrifft.[6]

Aneignung des obersten 0,1% der Gesellschaft[7]

Unstrittig ist die These, dass die Einkommensungleichheit seit den 1980er Jahren massiv zugenommen hat, während die Reichtumskonzentration moderat gewachsen ist. Unhaltbar ist aber die Behauptung, dass die zunehmende Ungleichheit ein reines Phänomen der Arbeitseinkommen ist. Dann bleibt zu erklären, weshalb in den USA die kleine Gruppierung der 0,01% der höchsten Einkommensbezieher sich in den letzten beiden Jahrzehnten gleichsam explosionsartig einen extrem hohen Anteil am gesamten Reichtum sichern konnten (siehe Abbildung 3).


Piketty betont gerade für die USA das Gewicht der wirtschaftlichen Elite (die obersten 10%) an der Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Seaz und Zucman, die den Untersuchungsansatz weiterführen und ausbauen, spitzen den Befund noch stärker zu, dass vor allem der Anteil der 0,01% des obersten Ranges mit ihren Spitzengehältern (fixed income claims) für den scharfen Anstieg der Ungleichheit verantwortlich ist. Damit wird die Frage nach der Ursache für diese Verschiebung in der Verteilung der Arbeitseinkommen noch drängender.
Der Aufstieg einer kleinen Spitzengruppe der wirtschaftlichen Elite, d.h. die Aneignung eines überproportionalen Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, setzt sich in den Abstieg der großen Mehrheitsklasse um. Sicherlich ist bei den 90% auch weiter zu differenzieren – dies betrifft die Dynamik der Prekarisierung der Lohnarbeit und der working poor sowie den Druck auf die gesellschaftlichen Mittellagen. Die Bewegung der Sparrate dieser Mehrheit – faktisch ein Prozess, der vor der großen Krise in einen deutlichen Rückgang der Rücklagen übergeht (Entsparen) – ist ein starker Beleg für die Verschiebungen in den Verteilungsverhältnissen in den USA.
Die Kluft zwischen Arm und Reich war in den USA seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 nie so groß wie heute. Dem Anstieg des Anteils der obersten Elite am gesellschaftlichen Reichtum entspricht der Niedergang bei der großen Mehrheit. Die Verschlechterung der eigenen Einkommens- und Vermögensposition findet ihren Ausdruck darin, dass 85% der sich selbst der Mittelklasse zuordnenden Erwachsenen in den USA der Auffassung sind, dass es heute schwieriger ist für Menschen aus den Mittelklassen, ihren Lebensstandard zu bewahren als noch zehn Jahre zuvor. 62% derer, die dies sagen, machen dafür vor allem den Kongress, 54% Banken und Finanzinstitutionen, 47% große Unternehmen (Aktiengesellschaften), 44% die Bush-Administration, 39% die ausländische Konkurrenz und 34% die Obama-Administration verantwortlich. Gerade 8% geben dafür der Mittelklasse selbst eine Schuld.

 

Finanzmarktkapitalismus

Wachsende soziale Ungleichheit und das damit einhergehende »Verschwinden der Mitte« (Krugman) sind keineswegs auf die USA beschränkt. Ausgehend von den USA hat sich vielmehr seit den 1970er Jahren in allen kapitalistischen Ländern die Tendenz zu einer Eigentümergesellschaft, zur Herrschaft der Vermögensbesitzer durchgesetzt und die Ära des »sozial regulierten Kapitalismus« abgelöst. Dieses je nach national-his­torischen Besonderheiten moderierte System schlug sich in einer Erweiterung von sozialen Rechten und sozialen Eigentums (Sicherungssysteme mit Ansprüchen) nieder, ohne dass damit eine Außerkraftsetzung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik und der Verteilungsprozeduren verbunden war.
Kennzeichen der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation ist eine wachsende soziale Polarisierung – sowohl der Einkommen wie auch der Vermögen. Diese Tendenz hat sich verfestigt, wie aus den von der OECD veröffentlichen Daten (Zeitraum 2007 bis 2011) zur Einkommensverteilung hervorgeht. »Der Anteil des reichsten 1% am gesamten Einkommen vor Steuern ist in den meisten OECD-Ländern in den letzten drei Jahrzehnten deutlich gestiegen, vor allen in einigen englischsprachigen, aber auch etlichen nördlichen (von niedrigem Niveau aus) und südlichen europäischen Ländern.
Besagte 1% haben heutzutage Anteile zwischen 7% in Dänemark und den Niederlanden bis zu 20% in den USA. Dieser Zuwachs ist das Resultat der Tatsache, dass sich das oberste 1% einen unverhältnismäßig großen Anteil des Einkommenszuwachses über die letzten drei Jahrzehnte angeeignet hat – bis zu 37% in Kanada und sogar 47% in den USA. Dies erklärt, weshalb für die Mehrheit der Bevölkerung der Blick auf die Entwicklung der eigenen Einkommen mit der Entwicklung der statistischen Durchschnittseinkommen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Zur gleichen Zeit haben Steuersenkungen in nahezu allen OECD-Mitgliedstaaten dazu geführt, dass die oberen Einkommenssteuersätze deutlich gesenkt worden sind. Die Krise hat diese Trends für eine gewisse Zeit unterbrochen – aber die vorhergehende Entwicklung nicht umgedreht. In einigen Ländern haben sich die Spitzeneinkommen bereits 2010 wieder erholt.« (OECD 2014) (Siehe Abbildung 4.)


Im Blickpunkt der politischen Auseinandersetzung um die durch den Finanzmarktkapitalismus ausgelöste Verschärfung des Gegensatzes der Klassen stehen die unter Druck geratenen »Mittelklassen«, »Mittelschichten« bzw. die»gesellschaftliche Mitte«. Sie werden definiert nach der Höhe des Einkommens, Qualifikation und sozialer Stellung im Beruf. »Mitte« lässt sich »über drei zentrale Merkmale definieren: ein hinreichendes Einkommen, ein bestimmtes Maß an Bildung bzw. beruflicher Qualifikation und eine berufliche Position jenseits gering qualifizierter und körperlicher Arbeit«. (Bertelsmann-Stiftung 2012: 48) Ein genauerer Blick auf die auf diese Weise bestimmte »Mitte« zeigt allerdings, dass hier ganz disparate Personenrubriken zusammengefasst werden: u.a. qualifizierte Lohnarbeiter des Kapitals, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Solo-Selbständige und auch Nichterwerbspersonen (Rentner, Pensionäre), die selbst, je nach Stellung im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess,[8] ganz unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen unterliegen.
Weder neoliberale Politik der 1980er und 1990er Jahre noch die Politik der »Neuen Mitte« haben ihr Versprechen, die Lage der »Mitte« durch Förderung der Vermögenstitel bzw. durch Entkleidung des Lohns von Sozialleistungen zu stabilisieren und ihr Spielräume für private Absicherung zu schaffen, einlösen können. Die Folge war auch innerhalb der »Mitte« eine wachsende Distanz zum politischen System und die weitere Erosion der ehemaligen Volksparteien.
Diese Verunsicherung der »Mitte« und die Krise ihrer politischen Repräsentanz kann auch von der herrschenden politischen und ökonomischen Elite nicht bestritten werden. Gleichwohl behaupten Teile dieser Elite gegen alle auch empirisch nachweisbaren Entwicklungstendenzen, dass schrumpfende Mittelschicht und Einkommenspolarisierung bloße Mythen sind und die Statuspanik der »Mitte« unbegründet ist.
Gleichzeitig wird allerdings – damit dem Zersetzungsprozess der »Mitte« durchaus Rechnung tragend – ein weitreichender Paradigmenwechsel vollzogen, den man auch als Abschied von der »Mitte« als tragendem Fundament bürgerlicher Politik bezeichnen könnte: »Fraglich ist allerdings, ob die Mittelschicht tatsächlich eine moderne und komplexe Gesellschaft wie die unsrige zusammenhalten kann und wie wichtig damit eine große Mittelschicht ist. (…) Fakt ist: Eine stabile Gesellschaft mit sozialem Frieden ist nicht auf eine große Mittelschicht angewiesen, sondern kann auch über Mobilitätschancen gewährleistet werden.« (Enste u.a. 2011: 15)
Eine überzeugende politische Konzeption zur Stabilisierung der gesellschaftlichen »Mitte« in der Großen Krise ist bei den Aufklärern über den »Mythos Mittelschicht« allerdings nicht erkennbar.

Literatur
Atkinson, Anthony B./Piketty, Thomas/Saez, Emmanuel (2011), »Top Incomes in the Long Run of History«, Journal of Economic Literature, 49(1), pp. 3-71.

Bertelsmannstiftung (2012): Burckhard, Christoph/Grabka, Markus M./Groh-Samberg, Olaf/Lott, Yvonne/Mau, Steffen: Mittelschicht unter Druck, Gütersloh.

Bischoff, Joachim u.a. (1982): Jenseits der Klassen? Gesellschaft und Staat im Spätkapitalismus, Hamburg.

Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hrsg.) (2009): Prekariat, Abstieg, Ausgrenzung, Frankfurt a.M.

Deutsche Bundesbank (2013): Vermögen und Finanzen privater Haushalte in Deutschland: Ergebnisse der Bundesbankstudie, Monatbericht Juni.

Enste, Dominik H./Erdmann, Vera/Kleineberg, Tatjana (2011): Mythen über die Mittelschicht, Roman Herzog Institut, Information Nr. 9.

Kopczuk, Wojciech/Saez, Emmanuel/Song, Jae (2010), »Earnings Inequality and Mobility in the United States: Evidence from Social Security Data since 1937«, Quarterly Journal of Economics, 125(1), S. 91-128.

Krugman, Paul (2011): Infusion für die Wirtschaft statt Aderlass, in: Frankfurter Rundschau 26.9.

Krugman, Paul (2014): Thomas Piketty oder die Vermessung der Ungleichheit, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik, Heft 6, 2014.

Leigh, Andrew (2007): »How Closely Do Top Income Shares Track Other Measures of Inequality?«, The Economic Journal.

Müller, Bernhard (2013): Erosion der gesellschaftlichen Mitte. Mythen über die Mittelschicht – Zerklüftung der Lohnarbeit – Prekarisierung & Armut – Abstiegsängste, Hamburg.

Noll, Heinz-Herbert/Weick, Stefan (2011): Schichtzugehörigkeit nicht nur vom Einkommen bestimmt. Analysen zur subjektiven Schichteinstufung in Deutschland, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren, Ausgabe 45, Februar; zitiert in: Böckler Impuls 6/2011, In den Köpfen hat die Mittelschicht Bestand, S. 6f.

OECD (2013a): Crisis squeezes income and puts pressure on inequality and poverty. New Results from the OECD Income Distribution Database.

OECD (2013b): Krise steigert Ungleichheit und Armutsrisiko in OECD Ländern – Deutschland und Österreich im Vergleich positiv, Presseerklärung 15. Mai, www.oecd.org/berlin/presse/einkommen-verteilung-ungleichheit.htm.

OECD (2014): FOCUS on Top Incomes and Taxation in OECD Countries: Was the crisis a game changer?, Mai 2014.

Piketty, Thomas (2014): Capital in the 21st Century, Harvard University Press.

Saez, Emmanuel (2013): »Striking it Richer: The Evolution of Top Incomes in the United States (updated with 2012 preliminary estimates).«

Anmerkungen

[1] Chris Giles, ein Journalist der »Financial Times«, hatte Piketty fragwürdige Berechnungen vorgeworfen. Piketty räumt zwar ein, dass die Quellenlage zur Vermögensverteilung deutlich schlechter sei als bei der Einkommensungleichheit. Die von der »FT« vorgeschlagenen Korrekturen seien jedoch »überwiegend relativ unbedeutend und beeinflussen nicht die langfristige Entwicklung und meine Gesamtanalyse«. Zugleich beruhten sie selbst auf »recht fragwürdigen« methodischen Ansätzen. Keine Frage: Die Datenlage kann mit Sicherheit optimiert werden, aber die Grundtatbestände werden dadurch nicht infrage gestellt. Piketty hat, unterstützt von Kollegen wie Anthony Atkinson (Oxford) und Emmanuel Saez (Berkeley), seit mehr als zehn Jahren historische Steuerlisten ausgewertet und füttert seinen Rechner mit Wirtschaftsdaten aus 20 Ländern.
[2] Wie das Beispiel Deutschland und der Steuer-CD’s zeigt, ist die Praxis der Steuervermeidung gerade bei Unternehmen und Vermögensbesitzern immer noch sehr verbreitet. Insofern unterzeichnen Steuerdaten nach dieser Seite eher die Ungleichheit. Ob der Steuervollzug in anderen Ländern besser funktioniert, wäre zu überprüfen.
[3] Die Bundesbank hat die gesamtwirtschaftliche Vermögensbilanz mit Ergebnissen einer Umfrage PHF konfrontiert: Im Ergebnis ist die »Abdeckung des Vermögens durch die PHF als gut zu bezeichnen. Die Nettovermögen des Sektors ›Private Haushalte‹ (…) wird vom PHF zu 90% abgedeckt« (Deutsche Bundesbank 2013). Die aus der subjektiven Befragung gewonnenen Daten unterzeichnen dabei das tatsächliche Vermögen. Die Unterschiede erklären sich u.a. daraus, »dass die extrem reichen deutschen Haushalte typischerweise nicht in den Stichproben repräsentiert sind. (…) Dies hat vor allem Auswirkungen auf die Mittelwerte.« (ebd. S. 28). Vgl. dazu: Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Europameister in sozialer Ungleichheit. Vermögensverteilung in Deutschland, in Sozialismus 7-8/2013, S. 36ff.
[4] Sozialwissenschaftler wie Streeck sprechen vom »Ende des demokratischen Kapitalismus«. Verteilungspolitisch steckt in dieser Formel ein Urteil über den Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Piketty drückt dies so aus: »Ohne Zweifel: Das Wachstum der durch Erbschaft (oder Besitz) begünstigten Mittelklasse war die strukturelle Veränderung in der Verteilung in den entwickelten Ländern des 20. Jahrhunderts.« (Picketty 2014: 260)
[5] Bei den Vermögens- und Kapitaleinkommen geht es um »leistungslose Einkommen«. Piketty stellt klar: »Es ist also signifikant, dass die Wörter Rente oder Rentier im 20. Jahrhundert eine hoch pejorative Bedeutung hatten. Ich benutze den Begriff in diesem Buch in dem ursprünglich beschreibenden Sinn, um die jährlichen Kapitalerträgnisse und die Einkommen derer zu beschreiben, die davon leben.« (Piketty 2014: 422)
[6] Wir sind mit einer doppelten Entgrenzung konfrontiert. Die Werte der »capital assets« steigen und auch die daraus abgeleiteten Einkommen. Auch die Arbeitseinkommen nehmen enorm an Spreizung zu; die Arbeitseinkommen der Wohlhabenden (sowohl die obersten 10%, aber vor allem der höchs­ten 0,01%) sind in den letzten Jahrzehnten explodiert. Verteilungspolitisch geht es daher um zwei »Stellschrauben«: eine Regulation der Lohn- und Arbeitskommen sowie eine Besteuerung der Vermögen und Vermögenseinkommen.
[7] Vgl. dazu: Emmanuel Saez (UC Berkeley), Gabriel Zucman (LSE and UC Berkeley), The Distribution of US Wealth, Capital Income and Returns since 1913, March 2014.
[8] Eine Aktualisierung der ökonomischen Anatomie der Klassen in den entwickelten kapitalistischen Ländern auf Basis der Kritik der politischen Ökonomie bleibt eine wichtige Zukunftsaufgabe der sozialistischen Linken, deren Umsetzung allerdings entsprechende Ressourcen (Zeit, Geld) voraussetzt (siehe Bischoff u.a. 1982).

Originaltext erschienen in Sozialismus Heft Nr. 7-8, Juli 2014

Quelle: http://www.sozialismus.de/heft_nr_7_8_juli_2014/detail/artikel/der-moderne-kapitalismus-eine-oligarchische-gesellschaft/