Justizkomplott in Brasilien

Doch der federführende Untersuchungsrichter in der Affäre um den staatlich kontrollierten Erdölkonzern Petrobras, Sérgio Moro, und ein Team von Staatsanwälten missbrauchten ihre Amtsmacht, Lula hinter Gitter zu bringen, um seine Teilnahme an der Präsidentschaftswahl im Oktober 2018 zu verhindern.[1]

2017 verurteilte Moro Brasiliens Ex-Präsidenten (Lulas Amtszeit währte von 2003 bis 2011) nach einem jahrelangen Korruptionsprozess zu einer mehr als neunjährigen Haftstrafe. Kurz darauf wurde die Haftstrafe durch ein Berufungsgericht auf zwölf Jahre und einen Monat erhöht. Der 73-jährige Lula, eine Leitfigur der lateinamerikanischen Linken, der seit April 2018 im Gefängnis sitzt, hatte als Favorit der Präsidentschaftswahl gegolten, konnte aber wegen seiner Verhaftung nicht bei der Wahl antreten. Der Richterspruch räumte den Weg frei für Lulas Widersacher, den rechtsextremen Politiker Jair Bolsonaro, der während des Wahlkampfes öffentlich erklärt hatte, er hoffe, Lula werde »im Gefängnis verrotten«.

Gleich nach Inthronisierung als Staatspräsident ernannte Bolsonaro Sergio Moro zum Justizminister in der Hauptstadt Brasília. Von Anfang an hatte die Berufung des Richters den Geschmack der Dankbarkeit für geleistete Dienste. Denn der Wahlsieg des ultrarechten Politikers ist Ergebnis eines Justiz-Komplotts, das zeigen die Enthüllungen der Investigativ-Plattform The Intercept. Die dem Online-Portal zugespielten »geleakten Handy- Konversationen«[2] zwischen Moro und den für die Causa Lula zuständigen Staatsanwälten, Videos und Mitschnitte belegen die gezielte Manipulation von Ermittlungen, die als politische Waffe gegen die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) eingesetzt wurden. Sie liefern den Beweis dafür, dass es nie um ernsthafte Korruptionsermittlungen ging, sondern einzig und allein darum, den Ex-Präsidenten politisch kaltzustellen.

Brasilien erlebt den Anfang eines Justizskandals, der die Korruptionsermittlungen der vergangenen Jahre wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lassen könnte. Fernando Haddad von der Arbeiterpartei, der anstelle von Lula bei der Präsidentschaftswahl gegen Bolsonaro angetreten war, spricht von einem der »möglicherweise größten Skandale in der Geschichte der Republik«. Seit 2014 hatte der scheinbar »unerschrockene« Korruptionsermittler Moro aus der südlichen Provinzstadt Curitiba im Rahmen der Operation »Lava Jato« (Autowaschanlage) einen spektakulären Korruptionsfall nach dem nächsten aufgeklärt, und wurde dafür gefeiert. Für die brasilianische Rechte wurden die Strafverfolger aus Curitiba und Richter Moro schließlich zu Helden, weil es ihnen gelungen war, Lula zu Fall zu bringen.

In der Causa Lula da Silva hatte es Sergio Moro als erwiesen angesehen, dass der Alt-Präsident dem Baukonzern OAS Aufträge beim halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras verschafft hatte. Als Gegenleistung soll er eine dreistöckige Luxuswohnung im Küstenort Guarujá erhalten haben. Dieser Vorwurf konnte jedoch nie durch Dokumente belegt werden. Der Prozess gründete sich nur auf Indizien. Die Kläger konnten auch nicht präzisieren, welche Begünstigung Lula den angeblichen »Spendern« im Gegenzug zukommen ließ. Es war von einem »unbestimmten administrativen Akt« die Rede. Lula da Silva beteuert bis heute immer wieder seine Unschuld und prangert das Verfahren gegen ihn als politisch motiviert an. »Ich wurde in erster Instanz verurteilt, ohne dass sie einen einzigen Beweis vorgelegt haben«, sagte Lula erst jüngst in einem Interview mit dem Spiegel (22.5.2019).[3]

Schon Anfang des Jahres 2018 hatte ein Bericht der Wochenzeitung Carta Capital für Aufsehen gesorgt, in dem das Vorgehen gegen Lula in den Kontext einer kontinentalen Strategie gegen die Linke in Lateinamerika gestellt wurde. Der dominikanische Politiker Manolo Pichardo berichtete von einem Treffen in der US-amerikanischen Metropole Atlanta, bei dem sich konservative Politiker aus Lateinamerika über Destabilisierungsstrategien ganz auf der Linie der erfolgreichen »weichen« Staatsstreiche in Honduras 2009 und Paraguay 2012 ausgetauscht hätten. »Unsere Oligarchien machen ohne Genehmigung oder Anweisungen aus den USA keinen Finger krumm«, ist Pichardo überzeugt.[4]

Selbst die Ermittler hatten massive Zweifel daran, dass die Beweise ausreichen würden, um Lulas Schuld zu beweisen. Im entscheidenden »Leak« macht Hauptankläger Deltan Dallagnol im Austausch über den Messaging-Dienst Telegram mit Richter Moro seine Zweifel deutlich, dass die Wohnung tatsächlich Lula gehörte und irgendetwas mit Petrobras zu tun hatte. Dallagnol zeigte sich im Chat »besorgt« wegen der fehlenden Beweise: »Es wird heißen, dass wir eine Anklage erheben, die auf Zeitungsmeldungen und schwachen Indizien beruht.« Deswegen sei es notwendig, einen wasserdichten Diskurs vorzubereiten.

Die politische Überzeugung der Justizbeamten verdeutlicht eine andere »Chat-Sequenz« zwischen Staatsanwalt Dallagnol und einem nicht identifizierten Kontakt »Carol PGR« (Procuradoria-Geral da República, etwa Bundesanwaltschaft). Carol PGR: »Deltan, mein Freund! Ich bin sehr besorgt wegen einer möglichen Rückkehr der PT (an die Regierung). Aber ich habe viel gebetet, damit Gott unsere Bevölkerung erleuchte und uns ein Wunder rette«. Deltan Dallagnol antwortete: »Danke Dir Carol! Ja, bete! Das brauchen wir als Land.«

Die Dokumente aus den Jahren 2015 bis 2017 belegen, dass sie die Akteure nicht aufs Beten beschränkten. Der frühere Richter und derzeitige Justizminister Brasiliens Moro stimmte sich nicht nur mit den Staatsanwälten der Einsatzgruppe »Lava Jato« ab, sondern erteilte ihnen auch Instruktionen, um Lula da Silva hinter Gitter zu bringen. Er engagierte sich als Stichwortgeber und Berater der Anklage, indem er ihnen Tipps gab, in welche Richtung sie ermitteln sollten. Außerdem wandten Moro und Dallagnol Tricks an, damit der Fall ihnen zugeteilt und nicht an ein anderes Gericht abgegeben wurde. Zuvor hatte die regionale Staatsanwaltschaft Sao Paulo die Zuständigkeit für sich reklamiert.

»Das ist nach brasilianischem Recht illegal«, so der Chefredakteur von The Intercept Brasil, Leandro Demori. Die brasilianische Verfassung von 1988 betone die Unabhängigkeit der Justiz und verbiete den Austausch von Informationen zwischen Staatsanwaltschaft und Richter außerhalb des Prozesses. Der Richter soll neutral die von Staatsanwalt und Verteidigern vorgelegten Beweise und Anträge prüfen und abwägen und sich ausdrücklich nicht an den Ermittlungen beteiligen.

Aus den von The Intercept veröffentlichten Texten geht jedoch nicht nur ein absoluter Mangel an Neutralität und eine direkte Beteiligung an der Strategie der Staatsanwaltschaft hervor. Moro hatte Anweisungen gegeben, wie mit der Presse und möglichen Zeugen umzugehen sei, drängte auf Durchsuchungen, wenn zu viel Zeit verstrich und das Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden drohte. So schreib er in einem Chat mit Dallagnol: »Ist es nicht seit den letzten Ermittlungen schon lange her?« Der letzte Einsatz war vor einem knappen Monat passiert und Moro war der Ansicht, es sei wieder an der Zeit, »zuzuschlagen«. »Das ist richtig«, antwortete Dallagnol, und drei Wochen später wurde der nächste Abschnitt der Operation eingeleitet.

Weder Moro noch Dallagnol leugnen den Inhalt der enthüllten Nachrichten. Im Gegenteil: Der heutige Justizminister hat nach der Enthüllung des abgekarteten Spiels die Gespräche zwischen Richtern und Staatsanwälten als »normal« bezeichnet. Es ist jedoch geradezu absurd. Denn »wenn Gespräche zwischen Richtern und Ermittlern gang und gäbe sind, sind sie ebenfalls korrupt, denn dies ist nun einmal in Brasilien verboten« sagte Sérgio Praça vom brasilianischen Think-Tank Fundação Getúlio gegenüber der Deutschen Welle. Mittlerweile hat der Bundesrat der brasilianischen Anwaltskammer (OAB) die umgehende Amtsenthebung des Justizministers und der staatsanwaltschaftlichen Einsatzgruppe »Lava Jato« empfohlen. Zugleich hat der Selbstkontroll-Ausschuss des Nationalrats der Bundesstaatsanwaltschaft (CNMP) eine Disziplinarbeschwerde gegen Staatsanwalt Deltan Dallagnol eingereicht.

Der Wechsel des Juristen Moro auf die Regierungsbank galt zunächst als schlauer Schachzug des ultrarechten Präsidenten. Doch jetzt könnte sich das Blatt drehen. Denn ausgerechnet Bolsonaros Superminister stürzt die ohnehin angeschlagene Regierung aus Rechtskonservativen, Militärs und Evangelikalen in eine Krise. Die Enthüllungen des Investigativ-Portals kommen für Jair Bolsonaro zur Unzeit. Nach knapp sechs Monaten Amtszeit steht dieser wegen der wirtschaftlichen Lage im Land unter Druck, eine von ihm geplante Rentenreform kommt nicht voran. Seine Umwelt- und Wirtschaftspolitik ist hoch umstritten, weil sie u.a. die Existenz des Regenwaldes gefährdet.

Die Gewerkschaften haben mit Unterstützung der Frente Popular und Povo Sem Medo (Volk ohne Angst) zu einem weiteren Generalstreik aufgerufen, der sich gegen die geplante Zerstörung des seit Jahrzehnten funktionierenden, solidarischen, staatlich regulierten Rentensystems und gegen Kürzungen im Bildungsbereich richtet. In einer von fast 40 Gewerkschaften und sozialen Bewegungen verabschiedeten Erklärung (Carta Terra, Território, Diversidade e Lutas) wird der Generalstreik mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit (derzeit 12,7 Prozent), Lohnsenkungen, dem Abbau von Arbeitsrechten, der Zunahme der prekarisierten Arbeit, dem Anstieg der Sklavenarbeit, der Kürzung des Sozialschutzes und der Mindesteinkommenspolitik, ferner der Liquidierung von Familienzuschüssen, Wohnungsbauprogrammen, Beeinträchtigung von Frauen- und Jugendrechten, Etatkürzungen in der öffentlichen Bildung begründet.

Eine zentrale Forderung der Unterzeichner*innen ist auch der landesweite Kampf für die Freilassung des unrechtmäßig inhaftierten Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und die »Achtung der verfassungsmäßigen und demokratischen Rechte aller Personen«. Der Metallarbeiter-Gewerkschaft zufolge beteiligten sich 95 Prozent der Arbeiter an dem Streik. In großen Unternehmen wie Volkswagen wurde die Arbeit eingestellt. Nach Gewerkschaftsangaben wurde in insgesamt 189 Städten gestreikt.

Fußnoten

[1] Vgl. Otto König/Richard Detje: Brasilien – Hexenjagd auf Ex-Präsidenten. Causa Lula kann die Linke vereinen, Sozialismus Aktuell 28.8.2018. Zur langfristigen politischen Entwicklung i.S. der »politischen Kultur« in Lateinamerika siehe Dieter Boris: Politische Kultur in Lateinamerika. Hintergründe, Wirkungen und Perspektiven, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus.de 7/8-2019 (i.E.).

[2] The Intercept hat angekündigt, noch über weit mehr Material zu verfügen und bisher nur »einen kleinen Teil« veröffentlicht zu haben. Offenbar handelt es sich um 1.500 Stunden Audio- und Video-Aufnahmen, ferner um über 1.700 Seiten Geheimdokumente mit namentlich genannten Ministern, Richtern, Militärs und leitenden Medien- Redakteuren in Brasilien. Zu den Gründern von The Intercept zählt der Journalist und Pulitzer-Preisträger Glenn Greenwald, der 2013 zu dem Team aus Journalisten gehörte, die die Enthüllungen des US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden über den US-Geheimdienst NSA publik machten.

[3] Die deutsche Bundesregierung hatte das Verfahren gegen Lula trotz massiver Kritik von Beginn an stets verteidigt. »Nach Einschätzung der Bundesregierung gibt es keine Anhaltspunkte, das Verfahren gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva als politisch motiviert oder rechtsstaatswidrig anzusehen«, antwortete sie auf eine parlamentarische Anfrage der Partei Die Linke.

[4] Gerhard Dilger: Brasiliens Ex-Präsident Lula Justizfarce gegen Lula, zweiter Akt, Neues Deutschland 25.1.2018.

Erstveröffentlicht bei: sozialismus.de (Vollversion)