Bricht der kapitalistische Gesellschaftsvertrag auseinander?

Gegenwärtig erlebt Zypern dramatische Momente, die das gesamte Netz der sozialen Beziehungen und das Alltagsleben der Menschen erschüttern werden. Das jüngste Abkommen der zypriotischen Regierung mit der Eurogruppe stößt die Hauptsäule der kapitalistischen Struktur um, nämlich den Bankensektor.

Die nachhaltige Zerschlagung der Volksbank (Laiki) und die Übertragung ihrer Haftungen an die Bank von Zypern, in Verbindung mit einem Schuldenschnitt für die Einlagen der Bank von Zypern ordnen einerseits die Bankenlandschaft neu, andererseits bestärken sie das Gefühl der Unsicherheit, was die Machbarkeit des Projekts anbelangt.
In den beiden letzten Wochen erlebten die Bewohner_innen Zyperns eine noch nie dagewesene Einschüchterung durch EU- und Regierungsbeamte, Wissenschaftler, Ökonomen und Analysten jeglicher Provenienz. Ihre Einschätzungen liefen alle darauf hinaus, ein Szenario des erstickenden Drucks zu erzeugen und jedwede Alternativen zu dämonisieren. Es herrschte das bewusste Bemühen, das Entschuldungsabkommen und das dieses begleitende Memorandum als den einzigen Ausweg zu präsentieren. Jegliche Erwähnung anderer Optionen wird mit Spott behandelt und ins Reich von Utopie und Romantik verwiesen.
Viele „Analysten“ und politische Parteien haben versucht, die Botschaft in den Köpfen der Menschen zu verankern, dass die Bewohner_innen Zyperns selbst an der ganzen Situation Schuld trügen, und zwar infolge ihres übertriebenen Lebensstils und weil „sie Geldwäscherei betrieben hätten“. Eine Folge dieser Ansicht ist, es sei eine gute Sache, dass die Europäer gekommen sind, um uns aufzuwecken. Diese Erklärung, die ohne den Klassenbegriff auskommt, ist falsch, ignorant gegenüber der Geschichte und zielt darauf ab, die dem Kapitalismus inhärenten Widersprüche und die Verantwortung einer schmalen Elite an Bankiers und ihrer politischen Unterstützer zu vertuschen.
Ohne den exzessiven Lebensstil oder gar die Fehler der Zypriot_innen und noch weniger die strukturellen Probleme der Wirtschaft Zyperns leugnen zu wollen, liegt die vorrangigste Ursache unseres Leids im System selbst, das Krisen produziert und reproduziert. Krisen sind dem kapitalistischen System immanent, das beständig auf Profitmaximierung aus und in Krisenzeiten bestrebt ist, die entstandenen Verluste zu vergesellschaften.
Die Mehrheit der Zypriot_innen macht gerade eine Schockerfahrung, die u.a. darin besteht, dass Erwartungen widerlegt werden und Mythen zusammenbrechen, die seit Jahren eifrigst aufgebaut wurden. Das betrifft in erster Linie die EU, eine Konstruktion, die man den Menschen als einen für  Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität eintretenden Verein verkaufen wollte. Deren Erklärungen erweisen sich jedoch bloß als „ungedeckte Schecks“, etwas, wovor die Linke immer gewarnt und wofür sie Spott und Hohn geerntet hat. Es zeigt sich des Weiteren, dass der Verlust der staatlichen Souveränität im Zuge der europäischen Integration ernsthafte Auswirkungen auf das Wohlgehen der Menschen hat, da nun Mitgliedsstaaten grundlegender Instrumente beraubt sind, um eine unabhängige Währungs- und Wirtschaftspolitik betreiben zu können.
Was Zypern anbelangt, ist die Sache, die auf dem Spiel steht, weit mehr als eine finanzielle Entscheidung, nämlich eine geopolitische. Was hier versucht wird, ist eine Art Neokolonialismus, um längerfristig gesehen die geostrategischen Interessen der wichtigsten westlichen Staaten zu sichern. Die Haltung der Troika – und der EU im Allgemeinen – gegenüber Zypern kann nur verstanden werden, wenn sie innerhalb eines weiteren geopolitischen Kontexts betrachtet wird. Dessen Rahmenbedingungen werden von der Entdeckung von Erdgaslagern in Zypern bestimmt, von der jüngsten Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Israel und dem Erreichen einer Lösung im Zypernkonflikt. All dies macht zusammen ein Gemengelage an komplexen geopolitischen Faktoren aus, für die ‚Lösungen’ zu finden sich die herrschenden Kreise in den Kopf gesetzt haben, d.h., einen Abschluss und Schlussstrich. Der ehemalige NATO-Generalsekretär Javier Solana hat zu diesem Thema schon einen Artikel geschrieben. Und wie es bereits freimütig vom Präsidenten der Eurogruppe, dem Holländer Dijsselbloem, ausgedrückt und von Kommissar Oli Rehn bestätigt wurde, wird das Rezept, das in Zypern zur Anwendung gelangt, als Modell für andere Problemländer dienen.
Was in Zypern geschehen ist, wirft im Grunde eine viel größere Frage auf, die ein Wesensmerkmal des Kapitalismus berührt. Die Entscheidung der Eurogruppe schändete unmittelbar den Altar des Kapitalismus, nämlich das Privateigentum. Nicht nur ausländische Investoren, sondern auch Tausende kleiner Sparer_innen haben innerhalb Sekunden ihre langjährigen Einlagen verloren. Individualbesitz und sein Schutz bilden ebenso wie der Wohlfahrtsstaat den Gesellschaftsvertrag des Kapitalismus mit den Menschen. Das ist es, was in einem System für Zusammenhalt sorgt, das auf dem uneingeschränkten Streben nach Profit und Ausbeutung beruht, was wiederum die Illusion und die Hoffnung nährt, dass eines Tages jede/r von uns ein Rockefeller werden kann. Sind einmal diese beiden Teile der Gleichung weggefallen (der Wohlfahrtsstaat ist ja schon seit Jahrzehnten unter Beschuss), lautet die Botschaft an die Welt, wenngleich sie noch nicht richtig verstanden wird, dass nämlich die Grundlagen der gesamten Konstruktion erschüttert sind. Das zeigt, wie tief die Krise tatsächlich geht, offenbart aber auch die Absichten eines Teil der Kapitalist_innen, über Leichen zu gehen, um ihren Profit zu sichern; ebenso wie die Widersprüche eines Systems, das davon lebt, alles auszubeuten: Menschen und Natur.