Demokratische Rechte verteidigen

In Katalonien vollzieht sich derzeit ein Prozess, dessen Ziel die Unabhängigkeit von Spanien ist. Auf Antrag der Volkspartei (PP) erklärte der spanische Verfassungsgerichtshof das Katalanische Statut von 2010 als verfassungswidrig. Dieses Statut war mit der Regierung Zapatero verhandelt und später vom spanischen Parlament befürwortet worden.

Seither wächst die Anzahl der Katalan_innen, die sich für die Unabhängigkeit ihrer Region von Spanien einsetzen, ungebrochen.

Der Grad an Autonomie, den sich Katalonien wünscht, war einer Rechtspartei wie der PP viel zu hoch – trotz der Änderungen des Statuts von 2010, die das spanische Parlament beschlossen hat.

Chronologie des katalanischen Unabhängigkeitsprozesses

  • 9. November 2014: Eine Volksbefragung zur Unabhängigkeit wird durchgeführt, die vom Verfassungsgerichtshof jedoch verboten worden ist. Nahezu 2,3 Mio. Menschen nehmen daran teil. Das Ergebnis: 80,72 % stimmen für die Unabhängigkeit, 4,55 % dagegen, 9,56 % wählen ungültig und verbleibende Stimmen fallen auf andere Antworten. Artur Mas, ehemaliger Präsident der Regionalregierung, nennt das Ergebnis in Anbetracht der Umstände, unter denen die Befragung stattgefunden hat, einen vollen Erfolg. Am Wahlabend wendet er sich mit zwei Botschaften an die Zentralregierung: Die Katalan_innen hätten klargemacht, dass sie sich die Unabhängigkeit wünschten und über ihre politische Zukunft selbst entscheiden wollten.

  • 20. November 2014: Die Staatsanwaltschaft beschließt, aufgrund der ungesetzlichen Abhaltung der Volksbefragung vom 9. November gegen den katalanischen Präsidenten rechtliche Schritte einzuleiten. Nach einer mehr als vierstündigen Debatte einigt man sich darauf, dass Anweisungen des Verfassungsgerichts, der die Befragung gesetzeswidrig erklärt hat, missachtet worden seien.

  • 14. Januar 2015: Nach einer Vereinbarung zwischen dem Präsidenten von Katalonien und dem Vorsitzenden der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), Oriol Junqueras, die von der Präsidentin der Katalanischen Nationalversammlung, Carme Forcadell, dem Verein Òmnium Cultural, Muriel Casals, und dem Präsidenten der Vereinigung der Gemeinden für die Unabhängigkeit, Josep Maria Vila d’Abadal, unterstützt wird, setzt die Generalitat für den 27. September 2015 Neuwahlen an.

  • 11. September 2015: Demonstration der Diada im Vorfeld der Wahlen am 27. September. Nach Angaben der Organisation nehmen 2 Millionen Menschen daran teil. Die Polizeikräfte der Guardia Civil zählen 1,2 Millionen Teilnehmer_innen.

  • 13. November 2016: Tausende Menschen versammeln sich, um ihre Unterstützung für katalanische Politiker_innen zu zeigen, gegen die der spanische Verfassungsgerichtshof ermittelt, darunter auch Artur Mas selbst. Der ehemalige Präsident ist der Ansicht, er habe nicht das Gesetz missachtet, sondern habe dem Mandat der katalanischen Bevölkerung Folge geleistet und daher die Volksbefragung am 9. November abgehalten. Puigdemont, derzeit Präsident Kataloniens, erklärt, Katalonien werde über sein Verhältnis zu Spanien selbst an der Wahlurne entscheiden und gibt zu Protokoll: „Ich hoffe, die Regierung in Madrid wird auf die Menschen hören.“

  • 13. März 2017: Artur Mas wird angeklagt, das ihm auferlegte Verbot missachtet zu haben, für die Dauer von zwei Jahren politische Ämter zu bekleiden; er wird zur Zahlung einer Geldstrafe von 36.500 Euro verurteilt. Ortega und Rigau werden unter denselben Anklagepunkten verurteilt und erhalten Freiheitsstrafen von 21 bzw. 18 Monaten. Zusätzlich muss Ortega eine Geldstrafe von 30.000 Euro bezahlen; Rigau 24.000 Euro.

  • 22. Mai 2017: Im Zuge einer Konferenz in Madrid bekräftigt Puigdemont in Begleitung des Vizepräsidenten der katalanischen Regierung und Parteivorsitzenden der ERC, Oriol Junqueras, und des Außenministers, Raül Romeva, einmal mehr seinen Wunsch nach Gesprächen mit der Zentralregierung zu den beim Referendum gestellten Fragen, dem gewählten Datum und der dabei notwendigen Mehrheit. Er fügt außerdem hinzu, dass das Referendum auch dann abgehalten würde, wenn die Zentralregierung Verhandlungen verweigere.

  • 24. Mai 2017: Puigdemont schreibt in einem Brief an den spanischen Präsidenten Mariano Rajoy, dass Gespräche zwischen den beiden Regierungen nötig seien. In diesem Brief versichert er auch, dass der Generalitat an einer friedlichen Lösung äußerst gelegen sei, jedoch den Willen der katalanischen Bevölkerung respektieren werde.

  • 25. Mai 2017: Rajoy beantwortet Puigdemonts Schreiben mit nachdrücklicher Ablehnung. Der Präsident der Zentralregierung verweigert jegliche Form von Verhandlungen zum Referendum und bezichtigt die katalanische Regierung, der Zentralregierung zu drohen.

  • 9. Juni 2017: Puigdemont kündigt die Abhaltung des Unabhängigkeitsreferendums an und legt als Datum den 1. Oktober fest. Die gestellte Frage soll lauten: „Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik ist?“

  • 6. September 2017: Das katalanische Parlament verabschiedet das Referendumsgesetz; der Präsident beraumt die Befragung für 1. Oktober an. Bei einer umstrittenen Parlamentsdebatte enthält sich das linke Wahlbündnis Catalunya sí que espot.

  • 7. September 2017: Im Vorfeld des Referendums setzt die Zentralregierung repressive Maßnahmen. Der Verfassungsgerichtshof erklärt das Referendum für gesetzeswidrig und warnt tausende katalanische Politiker_innen davor, sich durch ihren Einsatz für das Referendum strafbar zu machen. Die Staatsanwaltschaft bringt Beschwerde gegen Puigdemont und die katalanische Regierung ein. Rajoy lässt nach einem Treffen mit Pedro Sánchez (PSOE), der der Zentralregierung seine Unterstützung zusichert, verlauten, dass er alles tun werde, um das Referendum zu verhindern. Das katalanische Parlament gibt dem Gesetz zur Regelung des Übergangs in die Unabhängigkeit grünes Licht und Puigdemont kündigt die Durchführung des Referendums trotz der Beschwerden an.

  • 8. September 2017: Im Zuge von Hausdurchsuchungen beschlagnahmen die Polizeikräfte der Guardia Civil auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Wahlurnen und Stimmzettel. Die Polizei durchsucht auch Druckereien, den Firmensitz der Zeitung El Vallencand, sowie Privatfahrzeuge nach Propagandamaterial zum Referendum. Kontrollen dieser Art finden seither täglich statt. Gegen diese Polizeihandlungen finden zahllose friedliche Demonstrationen statt; auch Julian Assange verteidigt das Selbstbestimmungsrecht der Katalan_innen.

  • 11. September 2017: Eine weitere Diada-Demonstration mit mehr als einer Million Teilnehmer_innen, die sich für die Abhaltung des Referendums aussprechen, findet statt. Puigdemont verkündet: „Niemand kann uns aufhalten“.

  • 15. September 2017: Die Zentralregierung greift in die Regierungsgeschäfte Kataloniens ein und suspendiert einige Mitarbeiter_innen der Steuerbehörden.

  • 17. September 2017: In Madrid wird eine Veranstaltung zur Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts abgehalten, die zuvor von einem Madrider Gericht verboten worden ist. Trotzdem versammeln sich tausende Menschen. Die Polizei rückt mit einem Großaufgebot an; faschistische Gruppierungen drohen die Veranstaltung anzugreifen.

  • 19. September 2017: Die Guardia Civil beschlagnahmt für Wahlbeisitzer_innen bestimmte Informationsschreiben und beginnt, mehr als 700 katalanische Bürgermeister_innen zu verhören, die das Referendum unterstützen. Wer die Teilnahme am Verhör verweigert, wird von der Staatsanwaltschaft mit einer Gefängnisstrafe bedroht.

Diese Chronologie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll jedoch die Meilensteine des Streits darlegen.

Die spanische Linke und das katalanische Referendum

Sowohl Podemos als auch die Izquierda Unida unterstützen die Abhaltung des Referendums, jedoch unter gewissen Garantien. Podemos sieht das Referendum als Bürger_innenmobilisierung, ist allerdings der Ansicht, dass sein Ergebnis nicht bindend sein könne. Die Izquierda Unida ist der Ansicht, die beim Referendum gestellte Frage würde Menschen ausschließen, die sich ein Bundesstaatsmodell wünschten, in dem die unterschiedlichen im spanischen Staat vertretenden Nationalitäten frei verbunden wären.

Das Problem mit Garantien: Wenn die Zentralregierung nicht zu Verhandlungen bereit ist, können die geforderten Garantien nicht zugesichert werden, da das aktuelle Wähler_innenverzeichnis nur durch die Zentralregierung bestimmt werden kann.

Esquerra Unida I Alternativa (EUiA), das politische Gegenstück zur Izquierda Unida in Katalonien, beschloss am 17. September, sich gegenüber der katalanischen Bevölkerung für die Teilnahme am Referendum auszusprechen, auch wenn sich die EUiA gegen die Unabhängigkeit Kataloniens stellt.

Nun zum umstrittensten Punkt: Wer soll den Unabhängigkeitsprozess leiten? Die katalanische Bourgeoise zeichnet sich nicht gerade durch eine besonders demokratische Vorgehensweise aus und ist außerdem in viele Korruptionsskandale verwickelt. Auch wenn die Unabhängigkeitsbewegung bei Menschen aller Bevölkerungsklassen Zuspruch findet, ist es äußerst fraglich, ob die Arbeiter_innenklassen von der Unabhängigkeit profitieren werden. Es waren schließlich die Parteien der katalanischen Bourgeoisie in der katalanischen Regierung, die unter anderem im Bildungs- und Gesundheitssektor die umfassendsten Einsparungsmaßnahmen umsetzten und die Zentralregierung unterstützten, als das spanische Parlament antidemokratische Gesetze wie das „Mordaza-Gesetz“ verabschiedete, mit dem viele demokratische Rechte beschnitten wurden, um die Proteste der Bevölkerung gegen obengenannte antisoziale politische Maßnahmen beschränken zu können. Ich persönlich würde aus den oben genannten Gründen mit „Nein“ abstimmen. Das heißt jedoch nicht, dass der Bevölkerung kein Recht auf Selbstbestimmung zusteht.

Ich bin davon überzeugt, dass das „Nein“-Lager die Abstimmung gewinnen würde, wenn notwendige Garantien sichergestellt werden könnten; eine Demokratie sollte ihren Bürger_innen zugestehen, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden.

Umfragen von 2010 zeigten, dass sich zu diesem Zeitpunkt 35 % der Katalan_innen die Unabhängigkeit wünschten; heute sind es nahezu 50 %. Darüber hinaus zeigen die Umfragen, dass sich 80 % der Katalan_innen ein Referendum wünschen; 60 % geben an, daran teilnehmen zu wollen, auch wenn es der spanische Staat verbieten würde.

Die Repression und Uneinsichtigkeit von Mariano Rajoys Regierung waren es, die viele Menschen in Katalonien erst dazu brachten, sich für die Unabhängigkeit auszusprechen. Wenn seine Partei ihre repressive Politik aufrechterhält, ist es wahrscheinlich, dass diese Anzahl noch weiter steigt.

Dazu müssen wir uns einige Fragen stellen:

  • Was sind die Grenzen der Souveränität?
  • Gibt es nicht nur für die Kolonien ein Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch für Nationalitäten mit Autonomiestatus?
  • Warum ist in Spanien nicht möglich, was im Großbritannien mit Schottland möglich war?
  • Fürchten die spanische Regierung und der König, dass ein Bruch mit Katalonien der republikanischen Bewegung Aufwind verschaffen wird?

Nachtrag:

Nach weiteren Ereignissen am 20. September ist eine Erweiterung des Artikels nötig. Heute Morgen verschafften sich die Guardia Civil und das Nationale Polizeikorps in verschiedene katalanische Regierungsabteilungen Zutritt, registrierten die Abteilungen und nahmen etwa 14 Personen fest, darunter Vertreter_innen der katalanischen Regierung. Die linken Parteien Spaniens forderten dazu auf, sich entschieden gegen diese repressive Gewaltspirale seitens der PP-Zentralregierung zu stellen, die in Katalonien de facto für einen Ausnahmezustand sorgt.

Es geht nicht länger nur um das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Die Vorsitzenden von Podemos und Izquierda Unida stellten fest: „Wir müssen demokratische Rechte nicht nur wegen dieser diktatorischen Eingriffe seitens der spanischen Regierungen verteidigen.“ Sie forderten zur Verteidigung der demokratischen Rechte auf, die im spanischen Staat auf drastische Weise beschnitten werden. Als Antwort darauf versammelten sich zehntausende Menschen auf dem Platz Puerta del Sol in Madrid und in anderen spanischen Städten.

Eines ist damit klar: Die Regierungspartei hat sich von ihren faschistischen Wurzeln offensichtlich nicht befreit. An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass diese Partei von sieben Ex-Ministern des Diktators Franco gegründet worden war.