Deutschland auf dem Weg zur Ampel-Koalition

Bildung einer Ampel-Regierung kann sich über die drei Parteien hinaus auf eine breite gesellschaftliche Zustimmung stützen. Das im 12-seitigen Sondierungspapier aufscheinende Regierungsprogramm wirkt grüner und sozialer und zugleich ohne Brüche zur bisherigen Praxis, ohne Brüche zur Logik neoliberaler Politik.

Eine deutliche Mehrheit der Menschen in Deutschland wünscht sich Veränderungen und Kontinuität gleichermaßen. Klar müsse es angesichts der Klimakrise Änderungen und vor allem Investitionen in notwendige Umbauten geben und natürlich sei es wichtig, den sozialen Zusammenhalt wieder zu stärken – aber all dies mit Augenmaß. Genau dafür steht Olaf Scholz als Person, als neuer Kanzler und Garant einer merkelschen Politik der ruhigen Hand.
Dementsprechend unterstützen knapp 60 Prozent der Deutschen eine Ampelkoalition und 76 Prozent Scholz als neuen Kanzler. Das heißt die Bildung einer Ampel-Regierung aus Sozialdemokrat*innen, Grünen und Liberalen kann sich über die drei Parteien hinaus auf eine breite gesellschaftliche Zustimmung stützen.  

Grundsätzlich

Die eigentliche zentrale Konfliktlinie, die eigentliche Wegscheide vor denen diese Regierung mit unterschiedlichen Handlungsoptionen steht, findet sich im Sondierungspapier in dem ungelösten Widerspruch zwischen einer großangelegten Investitionsinitiative und dem Verzicht auf Steuererhöhungen und die Einführung einer Vermögenssteuer sowie die Beibehaltung der Schuldenbremse.

Ob es auch eine außenpolitische Konfliktlinie geben wird, ist offen. Potenzial dafür bestünde insbesondere angesichts des Verweises auf die europäische und globale Verantwortung Deutschlands im Sondierungspaper – eng verbunden mit Frankreich – und die Vorhaben einer verbesserten Ausstattung der Bundeswehr, der stärkenden Zusammenarbeit nationaler europäischer Armeen, einer zu entwickelnden nationalen Sicherheitsstrategie und der angekündigten Abrüstungsinitiative.

Was heißt das konkret?

Bemerkenswert ist die Rangfolge der zehn zentralen Themen, deren Konkretion und Gewichtung. Zunächst seien die Themenfelder genannt. Das Papier beginnt mit Modernisierung des Staates (1) und Klimaschutz (2) und Arbeit (3), setzt sich fort mit sozialer Sicherheit (4), Kinder, Familie und Bildung (5), Wirtschaftspolitik (6), Bauen (7), Freiheit und Demokratie (8), Haushalt (9) und endet mit Deutschlands Verantwortung in Europa und in der Welt (10).  Offenbar wurden vor allem die strittigen Themen ans Ende gesetzt und mit solchen Formulierungen bedacht, dass sie notfalls unterschiedlich interpretierbar sind oder Räume für Verschiedenes zulassen, ohne sich bereits vor Beginn der Koalitionsverhandlungen streiten zu müssen.

Die Themen im Einzelnen

  1. Modernisierung des Staates, der Verwaltung: Dazu gehört u.a. der Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge, vor allem im ländlichen Raum, es geht um ein gutes Leben mit Arbeit, Internet, guten Verkehrsanbindungen Einkaufsmöglichkeiten, Arztbesuch und Sportmöglichkeiten.
  2. Klimaschutz: wird verbunden und verstanden als „sozial-ökologische Marktwirtschaft“. Dazu gehört das klimagerechte Bauen oder Umbauen, alternative und erneuerbare Energie, der Ausstieg aus der Kohle bis 2030, Solardächer als verpflichtend für Neubauten, um zwei Prozent der Flächen für Windkraft und die Schaffung eines Fonds oder einer Stiftung für Anpassungs- und Ausgleichsmaßnahmen. Darüber hinaus soll das Erneuerbare Energie-Gesetz (EEG) sowie das europäische Programm „Fitfür55“ reformiert werden. Wie das geschehen soll, bleibt offen.
  3. Der Schwerpunkt „Respekt und Change für Arbeit“ wird erläuternd mit den Stichworten: Sicherheit und Lernen (für anstehende Veränderungen) eingeführt. Die traditionelle Sozialpartnerschaft soll fortgeführt werden. Durchgesetzt werden soll ein Mindestlohn von 12 Euro. Zugleich geht es um flexibilisierte Arbeitsmarkt-modelle mit der begrenzten Möglichkeit, bei der Tagesarbeitszeit von den gesetzlichen Regeln abweichen zu können, wenn Gewerkschaften oder Betriebsrat zustimmen – eine Regel, die angesichts des sinkenden Anteils von Tarifverträgen in den ostdeutschen Bundesländern auf betriebliche Auseinandersetzungen hinausläuft, falls es zu diesen überhaupt kommt. Die Mini-(Einkommen unterhalb von 450 Euro monatlich) und Midi-(Einkommen über 450 und unter 1.300 Euro monatlich) Jobs sollen neu reguliert werden. Das bedeutet für Minijobs ein Minimum von 10 Stunden pro Woche zum Mindestlohn. Das, was hier angedeutet wird, läuft auf eine Verstetigung von prekären Beschäftigungsverhältnissen hinaus, zumal auch das Bürgergeld (die umbenannte Hartz-IV-Variante – siehe nachfolgend das Themenfeld soziale Sicherheit) eine ähnliche Orientierung aufweist.
  4. Soziale Sicherheit bürgerfreundlich gestalten – allerdings ohne die bisherige Logik aufzugeben: Es bleibt beim aktivierenden Sozialstaat, der notfalls mit Sanktionen agieren können soll. Welche Unterschiede es zwischen den bisherigen Hartz-IV-Regelungen und dem künftigen Bürgergeld wirklich gibt, werden die Koalitionsverhandlungen zeigen. Bisher läuft es auf ein (allerdings bereits jetzt) erhöhtes Schonvermögen, welches nicht angerechnet wird, auf die Ausweitung der Bezieher*innengruppen unter Nutzung der Erfahrungen der Corona-Hilfen und die Erhöhung von Zuverdienstmöglichkeiten hinaus. Es bleibt jedoch alles im Rahmen der bisherigen Logik.
    Immerhin soll das Rentenniveau auf 48 Prozent des früheren Einkommens abgesichert werden. Außerdem soll es keine Erhöhung des Renteneintrittsalters geben. Es bleibt bei einer gesetzlichen und privaten Rentenabsicherung. Neu ist der Einstieg in die kapitalgedeckte Finanzierung der gesetzlichen Rente. Ein Schwerpunkt bleibt die staatlich zu fördernde private Fonds-basierte Rentenversicherung, obwohl das bisherige Produkt (Riester-Rente) gescheitert ist.
    Wirkliche Änderungen in der Pflege sind nicht sichtbar. Das Problem fehlender Pflegekräfte soll durch Anwerbung aus dem Ausland. Immerhin soll es bundesweit einheitliche Standards der Personalbemessung bei der Pflege geben. Die Frage ist hier – auf welcher Höhe wird eine Einigung möglich, zumal die Krankenhäuser infolge von Corona deutlich überhöhte Schuldenberge angehäuft haben und Gefahr laufen – wie vom neoliberalen Think-tank Bertelsmann Stiftung bereits 2019 vorgeschlagen, geschlossen oder aber privatisiert zu werden.
    Keine Änderung ist bei privater und gesetzlicher Krankenversicherung vorgesehen.
  5. „Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildung“ gehört ein lebenslanges Lernen, ein Thema, dass bereits beim Thema Arbeit aufgegriffen wurde. Neu ist das Zusammenlegen von Budgets zu einer Kindergrundsicherung und nach dem Scheitern 2021, die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Außerdem sollen die BAFÖG-Regeln reformiert werden und stärker unabhängig vom Einkommen der Eltern vergeben werden. 
  6. Wirtschaftspolitik: Festhalten wird an der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und hierzu ist die Erhöhung des Budgets für Forschung und Entwicklung auf 3,5% des BIP geplant.
    Freihandel soll regelbasiert auf der Grundlage von fairen sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Standards gestärkt werden. Zugleich spricht sich Deutschland für eine deutsche und europäische Handelspolitik aus, die sich gegen Protektionismus und unfaire Handelspraktiken richtet.  Was das konkret bedeutet, bleibt abzuwarten. Angekündigt wird im Papier zugleich, dass gegen unfaire Wettbewerbspraktiken autoritärer Regime der europäische Binnenmarkt und das europäische Wettbewerbsrecht gestärkt werden soll.
  7. Bauen und Wohnen: Dieser neuere Schwerpunkt der Ampelregierung geht auf den Druck der Bewegungen gegen Mietsteigerungen und Gentrifizierungen und auf das erfolgreiche Berliner Volksbegehren zur Enteignung der transnationalen Wohnungsunternehmen wie (Deutsche Wohnen) zurück. Mit dem Wohnungsthema wird de facto auch DIE LINKE „enteignet“. Wenn wie nunmehr geplant, jährlich 400.000 neue Wohnungen und davon 100.000 als Sozialwohnungen gebaut werden, wird dies zur sozialdemokratischen Erfolgsgeschichte gehören. Weniger die Mieterschutzregelungen. Diese sollen zwar überprüft werden, ohne jedoch einen Mietendeckel einzuführen.
  8. Freiheit und Sicherheit – Gleichheit und Vielfalt in der Demokratie: Die hierunter gefassten Stichworte umfassen das libertäres Ideenpaket, das weithin auch von einer links-grünen Wähler*innenschaft vertreten wird. Dazu gehört ein modernes Staatsbürger*innenschaftsrecht, ein modernes Einwanderungsgesetz ergänzt um ein Punktesystem zur Gewinnung ausländischer Fachkräfte. Darüber hinaus geht es um die Evaluation der Eingriffsbefugnisse des Staates und deren Neuausrichtung. Es findet sich in diesem Abschnitt eine klare Positionierung gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Anti-Islamismus, Anti-Queer-Politik, aber auch eine Abgrenzung nach Links – gegen Linksextremismus.
    Das Selbstbestimmungsrecht und auch die finanzielle Selbständigkeit der Frauen soll gefördert werden. Und es geht außerdem auch um die Sicherung der Vielheit und Freiheit der Kultur sowie um das Wahlrecht ab 16 Jahre.
  9. Die Aussagen zum Haushalt sind bisher sehr vage, so dass sich angesichts der geplanten Investitionsoffensive, des Wohnungsneubaus, der Einführung des Mindestlohnes, der Beibehaltung des Rentenniveaus und der Beibehaltung der Schuldenbremse die Frage stellt, wie z.B. Investitionen im Rahmen der Schuldenbremse und ohne die Erhöhung von Steuern – abgesehen davon, dass es keine Vermögenssteuer geben wird – überhaupt möglich sein wird? Die Aussagen des Koalitionsvertrages werden hierzu Antworten geben müssen.
  10. „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“: Die ist der letzte Themenkomplex im Sondierungspapier und bleibt recht vage.
    Festgehalten wird zunächst, dass Deutschland globale Verantwortung trägt und Deutschlands Verantwortung darin besteht, die Europäische Union zu stärken. Deutschland wird sich deshalb europäischer ausrichten. Im Papier wird deshalb formuliert, dass die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik wertebasiert und europäischer aufzustellen sei und die strategische Souveränität Europas erhöht werden müsse. Konkret heißt es: „Wir werden deutsche Interessen im Lichte der europäischen Interessen definieren. Wir wollen eine aktive Europapolitik betreiben, entlang einer starken deutsch-französischen Partnerschaft und in einer engen Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck.“ Damit wird – ungeachtet aller Auseinandersetzungen – das besondere Verhältnis Deutschlands zu Frankreich und Polen betont.
    Mit der im Sondierungspapier aufgenommenen Formulierung zu einer stärkeren Zusammenarbeit der nationalen europäischen Armeen findet sich der Vorschlag von Macron, dass die veränderte Rolle Deutschlands als stärkste Kraft in Europa sich auch in militärischer Hinsicht widerspiegeln sollte.
    Der Bundeseinsatz in Afghanistan soll durch einen Untersuchungsausschuss evaluiert werden, es wird jedoch grundsätzlich festgehalten an weiteren Auslandseinsätzen der Bundeswehr bei Verbesserung ihrer Ausrüstung.
    Zugleich wollen die Parteien der Ampel eine nationale Sicherheitsstrategie für Deutschland vorlegen und eine Initiative zur Abrüstung setzen und hierzu eine führende Rolle bei der Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen und Nichtverbreitungsregimes einnehmen.
    Der Stabilitäts- und Wachstumspakt habe seine Flexibilität bewiesen. Deshalb solle auf dieser Grundlage Wachstum sichergestellt, die Schuldentragfähigkeit erhalten und für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen gesorgt werden. Festhalten wird an einem Green New Deal, dessen Umsetzung in den Koalitionsverhandlungen ausgearbeitet werden müsste.  

Was heißt das für DIE LINKE?

Was auch immer am Ende der Koalitionsverhandlungen herauskommen wird, es beschreibt den heutigen Stand politischer Kräfteverhältnisse in Deutschland und spiegelt zugleich auch die Wirkungen gesellschaftlichen Drucks durch Bewegungen oder Initiativen der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt den nicht zu unterschätzenden Einfluss der Wirtschafts-, Finanz- und Versicherungslobby sowie Unternehmerverbände. Eines jedoch wird bereits jetzt klar: diese Ampel ist von Sozialdemokrat*innen, Grünen und Liberalen gewollt. Es geht nun um den Preis, den jede Partei zu zahlen hat.

Das sich ankündigende Regierungsprogramm erscheint grüner und sozialer, ohne Brüche zu den bisherigen Praxen oder zur bisherigen Logik. Modernität, Digitalisierung und überhaupt technologische Fortschritte als Motor zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen präsentiert. 

Allein die Kritik der Linken daran und der Vorwurf, nicht konsequenter nachhaltiger, klimaschonender, sozialer zu sein, wird nicht reichen. Im Gegenteil, die Konzentration des Sondierungspapiers auf einige soziale Verbesserungen wie die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro oder die Verteidigung der Rente sowie die Konzentration auf den Wohnungsbau mit 400.000 Wohnungen inklusive 100.000 Sozialwohnungen wird gerade den Sozialdemokrat*innen helfen, sich als durchsetzungsfähige Partei für soziale Gerechtigkeit unter schwierigen Bedingungen zu behaupten. Komplementär hierzu werden sich die Grünen – offen für soziale Fragen – als lebensweltlich alltagstaugliche Partei gegen Klimawandel und Umweltzerstörung präsentieren. Das muss die LINKE als Partei für soziale Gerechtigkeit und einen sozial-ökologischen Wandel ernst nehmen. Sie muss sich darauf einstellen, dass Sozialdemokrat*innen und Grüne eine wie auch immer geartete sozialökologische Ausrichtung ihrer Politik vornehmen und so den Platz für eine radikale Linke in Deutschland verändern.

DIE LINKE muss ihre eigene alternative Erzählung, ihre gesellschaftliche Vision glaubhaft zusammen mit Menschen vor Ort und in sozialen Bewegungen und Initiativen entwickeln und erzählen können. Dazu reicht es nicht, nur in den Städten stark und wirksam zu sein und aus der Perspektive der Städte Politikangebote zu formulieren. DIE LINKE muss in Stadt und Land vor Ort, also in den Kommunen, im Alltag verankert und wirksam werden.