Eva Milsted Enoksen zum Wahlsieg der Rot-Grünen Allianz in Kommunalwahl

Eva Milsted Enoksen ist langjähriges Mitglied der Rot-Grünen Einheitsliste und lebt in Kopenhagen. Sie ist Kandidatin der Einheitsliste für das dänische Parlament und ehemaliges Mitglied des Parteivorstandes.

Andreas Thomsen: Die Rot-Grüne Einheitsliste hat bei der Kommunalwahl in Kopenhagen am 16.11.2021 mit 24,6 Prozent ein großartiges Ergebnis eingefahren und wurde stärkste Partei in der Stadt. Kannst Du die politische Situation im Vorfeld der Wahl kurz beschreiben? Was waren die Gründe für diesen Erfolg?

Eva Milsted Enoksen: Die Rot-Grüne Einheitsliste (Enhedslisten, EL) hat in Kopenhagen das beste Wahlergebnis ihrer 32-jährigen Geschichte erreicht. Wir sind mit den 24,6 Prozent nun mit Abstand die stärkste Partei in der Stadt, gefolgt von den Sozialdemokraten (SD) deren Ergebnis für sie eine echte Katastrophe darstellt. Nur noch 17,3 Prozent. Dies ist der Gipfelpunkt einer mehr als 10-jährigen Entwicklung. Erstmals seit über 100 Jahren haben die Sozialdemokraten Platz 1 in der Stadt verloren.

Ein paar Gründe für diese Entwicklung sind bemerkenswert. Erstens gibt es in Kopenhagen scharfen Streit um die Stadtentwicklung, denn Mieten und Immobilienpreise explodieren. Nun planen die Sozialdemokraten, gemeinsam mit einigen Parteien der politischen Rechten, der sozialliberalen Partei RV und der Sozialistischen Volkspartei eine künstliche Insel in der Hafengegend, Wohnungen für 35.000 Menschen sollen hier entstehen. Als Grund dafür nennen sie Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Allerdings soll der Großteil der dort entstehenden Wohnungen auf dem freien Immobilienmarkt angeboten werden. Das bedeutet, die wird sich kein/e normale Arbeiter/in, geschweige denn Student/in oder Arbeitslose/r leisten können. Der tatsächliche Hintergrund dieses Projekts ist die Verschuldung der Stadt – es soll Geld damit gemacht werden, um ein teures U-Bahn-Netz damit finanzieren zu können. Zum anderen hat das Projekt natürlich ernsthafte umwelt- und klimapolitische Folgen. Viele sind gegen die Wachstumslogik, die hinter diesem Projekt steht. Mehr und vor allem teurere Wohnungen verlangen nach mehr Investitionen in Infrastruktur (auch für den Autoverkehr), das muss dann wieder durch den Verkauf von mehr Baugrund für noch mehr (teure) Wohnungen bezahlt werden. Und die brauchen dann wieder mehr Infrastruktur. Es gab auch eine bedeutsame Bewegung von Naturschützer/innen gegen die Bebauung eines der wenigen Naturschutzgebiete in der Stadt.

Tatsächlich spielt die Klimakrise für mehr und mehr Wähler/innen eine große Rolle. Hier hat die Rot-Grüne Einheitsliste einen Vorteil gegenüber den Sozialdemokraten, da wir traditionell sowohl rot als auch grün ausgerichtet sind und sehr starke Unterstützung bei jungen Wähler/innen haben. Und schließlich konnte des den Sozialdemokraten nicht gelingen ein/e bekannte/n Kandidate/n zu präsentieren. Der ehemalige Oberbürgermeister Frank Jensen war nach einer Serie von Fällen sexueller Übergriffe gezwungen, sich aus der Politik zurückzuziehen und die neue sozialdemokratische Kandidatin war sehr viel unbekannter in der Stadt.  

Wie funktioniert das kommunale System in Kopenhagen? Wird es eine/n rot-grüne/n Oberbürgermeister/in geben?

Wenn Du die stärkste Partei bist, heißt das nicht notwendigerweise, dass Du auch den Posten des/der Oberbürgermeister/in bekommst. Es muss eine Mehrheit von mindestens 55 Sitzen im Stadtrat gebildet werden, um diesen Posten zu erhalten. Kopenhagen hat eine/n Oberbürgermeister/in und sechs Stellvertreter/innen, die alle eine bestimmte Aufgabe in der Stadtregierung haben. Nach den Wahlen formen Parteien lose Allianzen (Zählgemeinschaften) um aus Mehrheits- oder Minderheitsgruppen Anspruch auf Posten in der Stadtregierung durchsetzen zu können. Mindestens werden sieben Sitze gebraucht, um einen Posten als Stellvertreter/in beanspruchen zu können. 28 Sitze werden für den Posten der/des Oberbürgermeister/in gebraucht. Die Mehrheitsgruppe kann dann zunächst die Ressorts auswählen. Nach dieser Wahl haben die Sozialdemokraten rasch eine Zählgemeinschaft mit drei rechtsaußen-Parteien gebildet, außerdem mit den Konservativen, den Liberalen und den Sozialliberalen. Das war jetzt keine große Überraschung und kam auch mit Ankündigung. Sie hatten zuvor deutlich gemacht, ein/e linke/r Oberbürgermeister/in käme für sie nicht in Frage. Die Mehrheitsgruppe, sie haben 32 Sitze, hat den Posten der Oberbürgermeisterin für die Sozialdemokratin  Sophie Hæstorp Andersen beansprucht. Außerdem beanspruchten sie drei Stellvertreter/innen-Posten für die Rechtsparteien. Die Rot-Grüne Einheitsliste eine gemeinsam mit der Sozialistischen Volkspartei und Alternativet eine Minderheitengruppe von 23 Sitzen gebildet. Die Einheitsliste erhält so 2 Stellvertreter/innen-Posten, die Sozialistische Volkspartei einen.

Jedenfalls, nach der Wahl ist die Rot-Grüne Einheitsliste in einer viel stärkeren Position. Die zwei Stellvertreter/innen-Posten sind für die Ressorts Stadtentwicklung, Wohnen, Energie, Umwelt und Soziales zuständig. Wir müssen sehen, ob damit stadtpolitische Entwicklung und Prioritäten wirklich substanziell zu ändern sind – denn das scheint es zu sein, was viele Wähler/innen sich am 16.11. gewünscht haben und noch wünschen. Wenn aber die Sozialdemokraten in den nächsten vier Jahren ausschließlich mit der Rechten zusammenarbeiten wollen, wird es schwer für uns. Denn wir stehen dann mit einem starken Wahlergebnis da, können aber wenig bewirken. Allerdings besteht kein Zweifel, dass die Machtposition der Sozialdemokraten in Kopenhagen geschwächt ist. Da kann es der Rot-Grünen Einheitsliste schon gelingen, die Sozialliberalen, sie sind das Zünglein an der Waage hier, dazu zu bringen, in Einzelfragen – etwa umwelt- oder klimapolitisch – alternative Mehrheiten zu bilden

Die Herausforderungen für progressive, linke Stadtpolitik sind in vielen Großstädten ziemlich ähnlich. Ganz besonders im Themenfeld Wohnen und Mieten. Was denkst Du, kann hier in den nächsten Jahren erreicht werden? Verfolgst Du die Auseinandersetzungen in Berlin in diesem Politikfeld? Gibt es Zusammenarbeit?

Viele in der rot-grünen Einheitsliste haben den erfolgreichen Volksentscheid “Deutsche Wohnen enteignen” aufmerksam verfolgt. Wir schlagen eine radikale Alternative zur derzeitigen marktorientierten Entwicklung in Kopenhagen vor. Das ist teilweise von Wien inspiriert. Wir kämpfen für einen Mietendeckel. Wir schlagen Niedrigzins-Kredite für gemeinnützigen Wohnraum vor. Und wir wollen ein kommunales Investitionsprogramm für Wohnungsbau und -sanierung. Insgesamt sollen 75 Prozent aller Neubauten günstigen Wohnraum bieten.

Ihr seid ausdrücklich eine rote UND grüne Partei, eine Organisation, die sich sowohl der ökologischen Transformation als auch sozialistischer Klassenpolitik verschrieben hat. Schafft das nicht Widersprüche? Wie geht Ihr damit um?

Tatsächlich denke ich nicht, dass es hier einen Widerspruch gibt. Die grüne Transformation ist unmittelbar erforderlich. Zugleich ist das eine einzigartige Chance, sich von kapitalistischer Logik und Wachstumsideologie, abzuwenden, die heute noch die meisten Gesellschaften bestimmen. Die meisten Parteien in Dänemark haben sich einen grünen Anstrich gegeben. Während die rechten Parteien erst jüngst akzeptiert haben, dass es tatsächlich eine echte menschengemachte Krise gibt, betonen die Sozialdemokraten seit langem einen wachsenden Handlungsdruck. Aber es wurde niemals eine echte Priorität ihrer Politik, nicht in Kopenhagen und auch nicht auf nationaler Ebene. Insofern ist ihre Strategie nicht anders als die der Rechten: Investitionen in technologische Entwicklung, somit kein Grund für gesellschaftliche Veränderungen für Änderungen des Lebenswandels und Konsumverhaltens. Für Dänemark ein gutes Geschäftsmodell übrigens. Das Land ist bereits ein wichtiger Technologieexporteur – da geht es um Windräder, Müllverstromung etc.

Dabei ist die rot-grüne Einheitsliste gar nicht gegen einen Schwerpunkt auf neue und ökologische Technologien, aber wir betonen auch deutlich, dass wir unsere Gesellschaften grundlegend umbauen müssen. In den Städten brauchen wir nicht mehr PKW-Parkplätze, wir brauchen aber mehr Raum für Fahrräder, für Fußgänger/innen, bessere und günstigere Busse und Züge. Klar, da stimmen uns nicht alle Arbeiter/innen, die täglich ihr Auto zum Pendeln brauchen, aber hier entscheiden wir uns für den grünen Schwerpunkt und nicht für den (traditionellen) roten.

Allgemein gesagt, zielen wir mit unserer grünen Programmatik darauf ab, dass dadurch vor allem die “einfachen” Leute profitieren und nicht die Eliten. Die reichsten Länder und die multinationalen Konzerne und die Superreichen sind zugleich die mit den größten CO2-Abdrücken. Wir müssen sicherstellen, dass sie auch diejenigen sind, die den Löwenanteil der Rechnung für die Transformation zahlen.

Danke für das Interview!

Das Interview wurde am 16/11/2021 geführt.