Europas Linke auf dem Weg, ihre Europapolitik neu zu definieren

Europa, die Europäische Union nicht weniger als die Mitgliedsstaaten, durchläuft eine vielfältige Krise, aus der sich derzeit kein Ausweg abzeichnet. Die Entsolidarisierung der Staaten im Hinblick auf die ankommenden Flüchtlinge stellt inzwischen eine der wesentlichen Errungenschaften der EU, den freien Personenverkehr, in Frage.

Der jetzigen politischen Krise war allerdings die Finanzkrise 2007/2008, auf die die Staatsoberhäupter und die europäischen Institutionen mit einer harschen Austertiätspolitik reagierten, vorangegangen. Dies spaltete die Gesellschaften in ihrem Inneren und stellte sie nach außen gegeneinander. Als im Jänner 2015 eine von der Linken gestellte Regierung in Griechenland ihre Arbeit aufnahm, schien es, als könnte es gelingen, nicht nur in einem Land, sondern europaweit die Austeritätspolitik in Frage zu stellen. Diese Hoffnungen erhielten aber einen schweren Schlag, als die Syriza-Regierung unter Androhung eines ungeordneten Staatsbankrotts im Juli gezwungenen wurde, ein drittes Memorandum zu unterzeichnen. Dieser Kampf ist nicht zu Ende, und die radikale Linke ist gefordert, Stellung zu nehmen.
Dies führt zu einem Dilemma. Einerseits ist das mit dem Vertrag von Maastricht und der Europäischen Währungsunion errichtete neoliberale Modell gescheitert. Seine Fortsetzung stößt auf immer größeren Widerstand, und wo sich dieser nicht in einer politischen Alternative artikulieren kann, kommt es zur Frustration und der Abwendung der Bevölkerung von den politischen Institutionen. Andererseits müssen wir uns selber auch eingestehen, dass die bisherigen Versuche der sozialen Bewegungen genauso wie der politischen Linken, die Sparpolitik zu beenden, nicht erfolgreich waren. Das gilt vor allem für die griechische Linksregierung und ihren Kampf um eine faire Lösung des Schuldenproblems. Offensichtlich waren wir naiv im Hinblick auf die bestehenden Kräfteverhältnisse und die im System der Staaten und der europäischen Institutionen eingebauten Hindernisse für eine Veränderung. Das muss sehr ernsthafte Überlegungen auslösen.
Die Lage wird dadurch noch komplizierter, als dass die notwendige selbstkritische Diskussion in einer Situation eines doppelten politischen Kampfes stattfindet: Es ist nicht mehr allein die autoritäre Fortsetzung der neoliberalen Austerität, mit der sich die Linke konfrontieren muss, sondern auch das europaweite Anwachsen der radikalen nationalistischen Rechten, die die weit verbreitete Frustration mit populistischen Mitteln aufgreift und die politischen Machtinhaber herausfordert. Dies zeigt sich in den Wahlergebnissen des vergangenen Jahres, bei denen rechtsradikale Parteien in neun europäischen Ländern einen durchschnittlichen Stimmanteil von 22 Prozent erreichten. Trotz bemerkenswerter Fortschritte der Linken, vor allem in den Ländern des europäischen Südens, ist die Gefahr einer europaweiten Rechtswende überdeutlich. Ziel dieser Rechten ist die Zerstörung eines geeinten Europa und der autoritäre Umbau der Staaten.

Europäischen Konferenzen und Strategiemeetings

In einer Reihe von europäischen Konferenzen und Strategiemeetings versuchte die Linke seit Beginn dieses Jahres, ihre Positionen in der neuen Situation zu bestimmen. Zwar zeichnet sich in diesen Debatten noch keine Einmütigkeit, jedoch eine Tendenz ab.
Den Anfang machte im Jänner die maßgeblich von Jean-Luc Mélenchon, Oskar Lafontaine, Zoe Konstantopoulou und Stefano Fassina in Paris veranstaltete Konferenz für einen europäischen „Plan-B“, dessen Kern in der Idee besteht, die Staaten des europäischen Südens dazu aufzurufen, die Alternative eines Austritts aus der Eurogruppe ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das Komitee für die Streichung der Schulden der Dritten Welt (CADTM) scheint diese Sicht zu teilen. Wie Lafontaine es ausdrückte, müsse „sich die Linke in Europa, ob Sozialisten, Kommunisten oder andere linke Gruppierungen in den Mitgliedstaaten der EU, ungeachtet ihrer Rivalitäten hinter dem Plan B versammeln, der zum Ziel hat, die Austeritätspolitik zu beenden und eine soziale Demokratie wiederaufzubauen“ (Junge Welt, 25.1.2916). Im Verständnis ihrer Initiator_innen soll die Pariser Konferenz den Auftakt zu einer Serie von ähnlich orientierten Veranstaltungen in europäischen Hauptstädten bilden, die zu einer konkreteren Ausarbeitung der Strategie und zur Verbreiterung der sie vertretenden Kräfte dienen sollen.
Anfang Februar trafen sich in Berlin 200 Aktivist_innen des transnationalen Blockupy-Bündnisses zu ihrem Ratschlag. Neben einer neuen Aktionsstrategie mit Blickpunkt auf die 2017 stattfindenden Bundestagswahlen in Deutschland wurde auch beschlossen, durch die Diskussion über ein „Manifest“ eine europapolitische Position zu erarbeiten. Man will für ein anderes Europa arbeiten: “A Europe of solidarity and real democracy, a Europe from below and with a social infrastructure for all (…). It cannot be a Europe of borders and isolation, of commanding and blackmailing. It is and has to be a Europe for all and of solidarity.”
Eine ähnliche Schlussfolgerung aus der evidenten Krise der europäischen Integration zu ziehen, schlägt Yanis Varoufakis mit der von ihm am 9. Februar in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellten Bewegung DiEM25 („Democracy in Europe Movement 2025“) vor. Ihr Manifest für die Demokratisierung Europas geht von folgendem Dilemma aus: „The EU will be democratised or it will disintegrate!“ Anders als das Plan-B-Konzept von Paris erkennt DiEM25 in der Desintegration allerdings keine positive Alternative.
Vorgeschlagen wird daher, eine breite Allianz für eine demokratische und transparente EU zu bilden. Neben – den politischen Willen vorausgesetzt – einfach und kurzfristig zu erfüllenden Forderungen wie einem Live-streaming der Sitzungen des Europäischen Rats, der Eurogruppe, des Rats der Finanzmister (ECOFIN) und des Gouverneursrats der Europäischen Zentralbank sowie einer zeitnahen Veröffentlichung von Protokollen fordert DiEM25, einen Neugründungsprozess der EU einzuleiten: “The people of Europe have a right to consider the union’s future and a duty to transform Europe (by 2025) into a full-fledged democracy with a sovereign Parliament respecting national self-determination and sharing power with national Parliaments, regional assemblies and municipal councils.” (Quelle)
Auch DiEM25 versteht die unter großem Medieninteresse abgehaltene Gründungsveranstaltung als den Auftakt zu einer Serie von Konferenzen und Versammlungen, die in den kommenden Monaten in den europäischen Hauptstädten organisiert werden sollen.
Das vierte bedeutende Ereignis fand am 21. Februar in Madrid statt, wo sich im heißen Klima der zu diesem Zeitpunkt voll in Gang befindlichen Regierungsverhandlungen 1.500 Menschen aus den sozialen Bewegungen und Parteien Spaniens sowie Gäste aus mehreren europäischen Ländern trafen. Obwohl unter dem Titel „Plan B-Konferenz“ einberufen, unterschieden sich Verlauf und Schlussfolgerungen von dem gleichnamigen Ereignis in Paris. In der nach vielen, vielfältigen Diskussionen verabschiedeten “Declaration for a Democratic Rebellion in Europe“ findet sich keine Forderung, die auf einen Austritt Spaniens oder irgendeines anderen Landes aus dem Euro und der EU zielte.
Ein Schlüsselsatz der Deklaration lautet, dass es gelte, eine Bewegung zu schaffen, um: „to place human rights, civil, political, social, economic, cultural and democratic rights, at the heart of the European project, as an intrinsic part of democracy.” Aufgerufen wird zu „Ungehorsam auf allen Ebenen“, darunter auch der institutionellen Ebene der Gemeinden. Am 28. Mai, dem Jahrestag der Pariser Kommune, ruft man zu einem, wenn möglich gesamteuropäischen, Aktionstag gegen Austerität und für ein demokratisches Europa auf.
Am 22. Februar traf sich in Brüssel der AlterSummit, eine aus Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, NGOs und politischen Parteien gebildete Allianz, zur Generalversammlung. Beschlossen wurde hier, sich solidarisch an allen Initiativen zu beteiligen, die sich der Austeritätspolitik in den Staaten auf europäischer Ebene entgegenstellen. Gemeinsam mit DiEM25 und anderen Partnern will man im Herbst eine unter dem Arbeitstitel „Die Würde der Arbeit“ maßgeblich von Gewerkschafter_innen mitgestaltete Konferenz in Brüssel abhalten.
Die Sequenz der Strategietreffen wird am 18. März in Athen fortgesetzt werden, wo Syriza, das Nicos-Poulantzas-Institut, die Partei der Europäischen Linken und transform! europe zu einer dreitägigen Konferenz unter dem Titel „Building Alliances to Fight Austerity and Reclaim Democracy in Europe“.

Wir in transform! wollen zu der gegenwärtig entstehenden Diskussion über einen „Alternativen Plan für Europa“ beitragen und haben an allen erwähnten Veranstaltungen teilgenommen. Wir sprechen nicht von einem „Plan B“, weil wir eine Verwechslung mit dem konkret in Umsetzung begriffenen „Plan B“ eines Teils der herrschenden Eliten in Deutschland, Frankreich, dem Vereinten Königreich und anderen EU-Ländern vermeiden wollen, der darin besteht, Europa in einen nationalistischen Egoismus regredieren zu lassen. Dieser reaktionäre „Plan B“ wird zu nationalistischem Wettbewerb zwischen Ländern führen, in dem alle Mittel zum Einsatz gelangen. Es ist kein Zufall, dass im populistischen Diskurs der extremen Rechten Nationalismus, Rassismus und Anti-Europäismus sich zu Amalgam verbinden.
Aber es geht nicht um Slogans und Wörter. Wir beteiligen uns an allen Debatten, die von Initiativen organisiert werden, in denen die Teilnehmenden auf solidarische Art ihre Ansichten die Erarbeitung einer realistischen und unabhängigen linken Position in Europa betreffend miteinander austauschen. Wir wollen solche Initiativen darin unterstützen, einander nicht in einem Wettbewerb zu bekämpfen, sondern Formen der Kommunikation zu finden, die getragen sind vom Geist der guten alten Tage der Anti-Globalisierungsbewegung, und das Gemeinsame in ihrer Theorie und Praxis zu entwickeln, insbesondere, was die Entfaltung eines gesamteuropäischen Kampfes gegen das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) betrifft.
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Siehe auch Einen alternativen Plan für Europa verfolgen: Eine ohne Tabus geführte Debatte unter Genossinnen und Genossen ist notwendig! – Deklaration, unterzeichnet von Vertreterinnen und Vertretern des Netzwerks transform! europe