Wahlpolitischer Umbruch in der Postdemokratie

Zum Zeitpunkt, da dieser Text veröffentlicht wird, sind die Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ noch im Gange. Niemand zweifelt am Zustandekommen des Bündnisses.

Ob die ÖVP der FPÖ das Außenministerium überlässt, die es mit einem deklarierten Deutschnationalen besetzen will, oder das sensible Innenministerium, ist noch nicht entschieden. In letzterem Falle würde Parteiobmann H.C. Strache, von dem Jugendfotos kursieren, die ihn als Teilnehmer einer neofaschistischen Wehrsportübung zeigen, die Leitung der Polizeibehörde und der österreichischen Integrationspolitik übertragen. So oder so werden die Minister vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen ernannt werden müssen, der seine Bedenken öffentlich ausgesprochen hat.

Das Endergebnis der österreichischen Nationalratswahl 2017 (Veränderung gegenüber 2013):

  • SPÖ: 26.9% (+0.1)
  • ÖVP: 31.5%; (+ 7.5)
  • FPÖ: 26% (+ 5.5)
  • Grüne: 3.8% (- 8.6)
  • Neos: 6.3% (+0.3%)
  • Liste Pilz: 4,4% (erstmals angetreten)
  • KPÖ+: 0.8% (-0.2)

Ergebnisse von Rechtsparteien aus 2013, die diesmal nicht zur Wahl angetreten sind:

  • BZÖ: 3.5%
  • FRANK: 5.7%

Das zahlenmäßig herzeigbare Ergebnis der Sozialdemokraten verdeckt die qualitative Seite des Rechtsrucks. Seit Bruno Kreiskys Wahlsieg vor 47 Jahren stellte die SPÖ in 41 Jahren den Bundeskanzler. Die Grünen, seit 31 Jahren im Parlament vertreten, scheiterten an der Vier-Prozent-Hürde. Die FPÖ, durch ihre durch Korruption und Inkompetenz gekennzeichnete Regierungsbeteiligung zwischen 2000 und 2006 diskreditiert, wird wieder Regierungspartei.

Österreich präsentiert sich als ein in Stadt und Land geteilter Staat. Mit 53 Prozent Stimmenanteil verfügen ÖVP und FPÖ über 113 von 183 Mandaten im Parlament. Diese satte Mehrheit kommt aufgrund ihrer Übermacht in dem, was man in Wien arroganter Weise „die Provinz“ nennt, zustande, denn in den größeren Städten, Wien, Graz und Innsbruck bleiben sie unter 50% der Stimmen. In diesen wiederum konnte die SPÖ ihren Stimmenanteil auf Kosten der Grünen bewahren, die ihre 24 Mandate im Parlament verloren haben. Acht dieser Mandate werden nun von der die Liste Pilz gehalten, die sich im Frühjahr dieses Jahres von den Grünen abgespalten hat.  

Als Ganzes betrachtet hielten sich die Wähler_innenbewegungen zwischen Rechts und Links in einem überschaubaren Ausmaß. Immerhin ergeben sich mehr als 2/3 des Anteilszuwachses von ÖVP und FPÖ durch das Nichtantreten zweier populistischer Rechtsparteien, die bei der Wahl 2013 zusammen auf 9,5 % der Stimmen kamen.

Aus dieser Perspektive erfordert die allgemein akzeptierte These vom Rechtsruck eine politische Qualifizierung. Nach rechts verschoben haben sich vor allem der politische Diskurs und das Parteienspektrum in seiner Gesamtheit. Zunächst deshalb, weil weder ÖVP noch SPÖ im Wahlkampf eine Koalition mit der FPÖ ausgeschlossen haben. Zudem haben sich alle Parteien, mit Ausnahme der Grünen und KPÖ Plus, zu einer restriktiven und repressiven Flüchtlings- und Islampolitik bekannt. Qualitative Untersuchungen belegen, dass im nach rechts verschobenen Meinungsklima ein Teil der Grünwähler_innen sich deshalb von ihrer Partei abgewendet haben, weil sie den durch die Spitzenkandidatin verkörperten Feminismus und die prinzipiell solidarisch ausgerichtete Minderheiten- und Flüchtlingspolitik der Partei nicht mehr unterstützen wollten.1

Sechs Monate, nachdem eine Wählerkoalition, die von der konservativen Mitte bis zur Kommunistischen Partei reichte, den Grünen Alexander Van der Bellen mit 54% zum Bundespräsidenten wählte, erreichte Schwarz-Blau mit  Sebastian Kurz, „dem akzeptablen Gesicht des Rechtspopulismus“,2  eine Mehrheit im österreichischen Parlament.

Dies dürfte der Auftakt zu einem Umbau des politischen Systems der Zweiten Republik Österreichs bilden, den der österreichische Zeithistoriker Gerhard Botz zutreffend eine „illiberale-neoliberale Wende“3 nennt.

FPÖ: Bösartig und deutschnational

Dass eine einflussreiche Gruppe der ÖVP schon lang auf eine Koalition mit der FPÖ hinarbeitete, wusste man, dass es dafür bereits eine jederzeit aktivierbare parlamentarische Mehrheit gab, ebenfalls. Das Haupthindernis bestand darin, dass es dafür keine Mehrheit in der Bevölkerung gab. Dieser „Fehler“ ist nun korrigiert. Aus dieser Perspektive kann man die Wahl vom 15. Oktober vor allem als eine geglückte post-demokratische Operation interpretieren.

Von allen rechtsradikalen, populistischen Parteien Europas gehört die FPÖ zu den bösartigsten. Bisweilen wird sie aufgrund ihres Rassismus und ihres Antiislamismus als eine nationalistische Partei bezeichnet. Das stimmt nur in einer ganz bestimmten Weise: Von anderen Nationalisten unterscheidet sie sich nämlich dadurch, dass ihr Nationalismus sich nicht auf die eigene Nation, Österreich, bezieht. Die FPÖ ist eine deutschnationale Partei, in dem Sinn, dass sie gemäß gültigem Parteiprogramm die Österreicher_innen deutscher Muttersprache als Teil der deutschen Nation betrachtet.4

Diese Sicht teilt sie mit der einflussreichen Subkultur Deutscher Burschenschaften, Traditionsvereine und neurechter Zeitschriften, die ihrerseits den Resonanzboden der rechtsextremen und neonazistischen Agitation im Lande bilden. Man lebt Tür an Tür.

Das ist nicht so exzentrisch, wie es scheint. Tatsächlich ist die FPÖ eine im österreichischen Parteiensystem traditionell verankerte Partei.5 Ihr Deutschnationalismus repräsentiert einen Sektor der österreichischen Eliten und darüber hinaus den wachsenden Einfluss deutschen Kapitals in Wirtschaft und Kultur des Landes.6

Sowohl ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus als auch der Deutschnationalismus stellen die FPÖ in einen Gegensatz zur Verfassung der Zweiten Republik Österreich und zur europäischen Nachkriegsordnung inklusive der EU. Dies kann im Szenario einer weiteren Verschärfung der Krise der EU und verstärkter deutscher Großmachtambitionen noch eine sehr unangenehme europäische Relevanz erhalten.

Soweit zur „hidden agenda“ der FPÖ, zum „verschwiegenen Wissen“, das ihren harten Kern zusammenhält und das sie umgebende intellektuelle und kulturelle Milieu bindet.

Ihre Wahlerfolge erklären sich aber aus etwas anderem, nämlich aus der erfolgreichen Mutation in eine rechtsradikale Partei neuen Typs, die autoritäres Gesellschaftsbild, ethnischen Nationalismus und populistischen Politikstil kombiniert7. Diese Fähigkeit, sich zu häuten und doch dasselbe zu bleiben, teilt sie mit den übrigen rechtsradikalen Parteien, mit denen sie in einer gemeinsamen Gruppe im Europaparlament zusammengeschlossen ist (u.a. Front National, Lega Nord, PVV, Vlaams Belang)8.

Die Zusammensetzung der Wähler_innenschaft der FPÖ zeigt das diesbezüglich bekannte Bild: Zu einem beträchtlichen Teil stimmen für die FPÖ männliche, (dem Erwerbsstatus nach) Arbeiter mit niedrigem Bildungsgrad abseits der urbanen Ballungszentren. Es sind weniger die deklassierten Schichten, sondern Menschen, die sich den Mittelschichten zurechnen und sich von sozialem Abstieg bedroht und von den etablierten politischen Parteien im Stich gelassen fühlen. Zu Recht, denn ihre soziale Lage hat sich im letzten Jahrzehnt tatsächlich verschlechtert. Eine sinkende Lohnquote hat zu einer raschen Zunahme der sozialen Ungleichheit geführt. Die Arbeitslosenquote stieg von 5% auf 9 % zum Höhepunkt der Finanzkrise, die mittlere Einkommenserwartung in der Pension sank um ungefähr 25%.

Es wäre aber falsch, den Zuwachs der populistischen Rechten als ein – wenn auch irregeleitetes – „Klassenvotum” zu interpretieren, denn die veröffentlichten Daten erlauben keine validen Aussagen über die tatsächliche klassenmäßige Zusammensetzung des Elektorats. Weder werden die Stimmenanteile nach Einkommensstufen noch nach Kategorien wie „Unternehmer“, „leitende Angestellte“ oder „Besitzer von Vermögen“ aufgeschlüsselt. Die Unterstützung der FPÖ durch die Oberen Zehntausend zählt zudem zu einem der gut gehüteten Geheimnisse des Landes, dessen Schleier sich dann und wann und eher zufällig hebt. So wusste die konservative Wiener Tageszeitung Die Presse in einem vor rund einem Jahr erschienen Artikel unter dem bezeichnenden Titel „Höret die Signale“ von einer wachsenden Unterstützung der FPÖ unter den Mitgliedern der exklusiven Vereinigung Österreichischer Industrieller9 zu berichten.

Die Zukunft der Sozialdemokratie ist fraglich

Die sich verfestigende populistische Entfremdung zwischen den Institutionen der liberalen Demokratie, die die Bevölkerungen der sozialen Kälte des Marktes überlassen, und der Bevölkerung, die sich ihrerseits dadurch revanchiert, dass sie der liberalen Demokratie den Rücken zukehrt, ist Konsequenz der eingangs beschriebenen Deformation der österreichischen Demokratie.

Das bisherige Parteiensystem der Zweiten Republik Österreich geht seinem Ende entgegen. Nicht so aber die Dominanz des Neoliberalismus. Mit der Übernahme eines populistischen Politikstils unter Sebastian Kurz hat die ÖVP eine Strategie für ihr Überleben in einer labilen politischen Landschaft gefunden. Die Zukunft der traditionsreichen österreichischen Sozialdemokratie ist hingegen sehr fraglich.

Das Halten ihres Wähler_innenanteils zulasten der Grünen hat einen bitteren Beigeschmack, der sich demnächst Wien bemerkbar machen wird. Im Jänner wird der Vorsitzende der mächtigen Landesorganisation sein Amt übergeben. Er war es aber, der sich gegen Widerstände auch in der Wiener SPÖ gegen jede Annäherung an die FPÖ gestemmt hat. Sein Rückzug und das Ausbluten des grünen Koalitionspartners in der Stadtregierung werden den diesbezüglichen Richtungsstreit befeuern. ÖVP, FPÖ und mit ihnen Boulevardzeitungen und private TV-Anstalten bereiten sich bereits auf eine Entscheidungsschlacht um Wien vor.

KPÖ Plus, das aus Kommunist_innen, Jungen Grünen und Unabhängigen gebildete Wahlbündnis, hat nach einem bemerkenswert aktiven Wahlkampf und einer für eine KPÖ-nahe Liste bisher nicht gekannten Akzeptanz in der Öffentlichkeit nicht reüssieren können. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die unter Linken verbreitete Sorge über die bevorstehende schwarz-blaue Koalition. Unter den Träger_innen dieser Wahlbewegung scheint Übereinstimmung zu bestehen, am Projekt einer neuen pluralistischen Linken weiter arbeiten zu wollen.

Das durch KPÖ Plus ausgesprochene Defizit des österreichischen Parteiensystems, nämlich das Fehlen einer Alternative links von Sozialdemokratie und Grünen, besteht weiter. Die tiefe Krise, in der die Grünen stecken, und die absehbare Zuspitzung der Auseinandersetzung in der SPÖ um ihren künftigen Kurs sollten dazu ermutigen, die Neuaufstellung der österreichischen Linken in einem größeren Maßstab und mutig zu denken.

Erschienen im Oktober 2017 auf: https://www.rosalux.de/publikation/id/38007/wahlpolitischer-umbruch-in-der-postdemokratie/


Anmerkungen:

1. SORA-Analysen zitiert in: „Frau sein ist kein Programm! Mann sein aber schon“, MALMOE on the web: www.malmoe.org/artikel/regieren/3326.

2. Hans Rauscher, „Haben wir uns in Christian Kern getäuscht?“, Der Standard, 16. August 2017.

3. Gerhard Botz, „Es gibt eine neoliberale-illiberale Wende“, Der Standard, 20. Oktober 2017.

4. Wörtlich heißt es im gültigen Programm der FPÖ: „Sprache, Geschichte und Kultur Österreichs sind deutsch. Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft.“, In: Parteiprogramm der Freiheitlichen Partei (FPÖ). Beschlossen vom Bundesparteitag am 18.6.2011 in Graz.

5. Pelinka, Anton: „Die FPÖ im internationalen Vergleich“, conflict & communication online, 1/1 2002, www.cco.regener-online.de/2002_1/pdf_2002_1/pelinka.pdf.

6. „Internationalisierung bei den Universitätsmitarbeitern sei in sehr vielen Fällen ‚Germanisierung‘, stellten Forscher der Universitätenkonferenz (Uniko) unlängst fest. 27,4 %Prozent der in Österreich lehrenden Universitätsprofessoren kommen laut einer aktuellen Auswertung des Wissenschaftsressorts aus Deutschland. An der Universität Wien sind es beinahe 40%“. Siehe: „Jeder vierte Professor ist Deutscher“, Die Presse, 14.2.2017.

7. Siehe: Cas Mudde, ‘The Far Right and the European Elections’, Current History Magazine 03/2014.

8. https://de.wikipedia.org/wiki/Europa_der_Nationen_und_der_Freiheit#Mitglieder

9. Siehe Die Presse, 2. Mai 2016, http://diepresse.com/home/wirtschaft/kolumnen/kordiconomy/4978742/%20Hort-die-Signale-der-FPO?%2520_vl_backlink=/home/index.do