Die sozioökonomische Situation in der Ukraine: Fokus Gender

Die strukturelle Anpassungspolitik, der bewaffnete Konflikt und um sich greifende rechtsextreme Gewalt betreffen besonders die Lebensrealität von Frauen und anderen gefährdeten Bevölkerungsgruppen.

Seit dem Jahr 2013 machte die Ukraine mit den Euromaidan-Protesten tiefgreifende Veränderungen durch: Der bewaffnete Konflikt brach aus und internationale Institutionen wir der IWF mischten sich verstärkt in die Agenden des Landes ein. Daten der Weltbank zufolge wies die Ukraine im Jahr 2017 das europaweit niedrigste BIP pro Kopf auf (Ekonomichna Pravda, 2018). Das Land zeichnet sich heute außerdem durch wachsenden Nationalismus, eine Militarisierung der Gesellschaft und einen Anstieg ultrarechter Gewalt aus.

Im vorliegenden Artikel möchte ich die aktuelle sozioökonomische Lage des Landes unter die Lupe nehmen. Ich möchte unterstreichen, wie wichtig es ist, die größeren  sozioökonomischen Strukturen zu hinterfragen, wenn es um das Thema der Emanzipation der Frau und anderer gefährdeter Gruppen geht.

Der Schattenbericht des CEDAW (Ausschuss zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau) ist eine der wenigen Studien, die die Auswirkungen der Austeritätsmaßnahmen und des Kriegs in der Ukraine auf Frauen untersucht (CEDAW-Ausschuss, 2017). Demnach betrifft der aktuelle Sozialabbau in besonderem Maße Frauen, da sie deutlich öfter auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sind und einen Großteil der Angestellten im öffentlichen Sektor ausmachen. 2014 verloren etwa 12.000 Sozialarbeiter_innen ihren Arbeitsplatz, was sowohl für die Angestellten selbst (großteils Frauen) als auch die von ihnen betreuten gefährdeten Personen ein großes Problem darstellte (CEDAW –Ausschuss, 2017, S. 6).

Ärmere, ältere  Frauen aus ländlichen Gebieten werden von der Austeritätspolitik deutlich stärker getroffen, da sie auf das staatliche Sicherheitssystem angewiesen sind. Um überleben zu können, müssen sie häufig von Ausbeutung geprägte Arbeitsstellen annehmen. Gemäß Studien im Rahmen des Projekts „Clean Clothes Campaign“ von O. Dutchak sind die Löhne der Näher_innen, die in ukrainischen Fabriken für bekannte Marken Kleidung anfertigen, die niedrigsten Europas. Auch wenn die Arbeitsbedingungen meist nicht gesundheitsgefährdend sind, leiden die Arbeiter_innen etwa im Sommer unter großer Hitze und müssen häufig Überstunden machen (Semchuk, 2017).

Auch der bewaffnete Konflikt wirkt sich auf das Leben vieler Frauen aus. Es wird angenommen, dass dadurch Gewalttaten gegen Frauen zugenommen haben, sowie die Unterstützung für Überlebende abnimmt (Folke Bernadotte Academy, 2018). Außerdem kam es zur Entstehung neuer gefährdeter Gruppen, wie etwa der Binnenflüchtlinge (IDP) und der Gruppe von Menschen, die in der vom Konflikt betroffenen Region leben. Frauen stellen die Mehrheit der Binnenflüchtlinge dar und sind in beiden Gruppen besonders gefährdet. Da es für sie manchmal schwer ist, die staatlichen Auflagen für den Erhalt von Unterstützungsleistungen zu erfüllen, gelingt es ihnen oft nicht, ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Das Phänomen „Sex zum Überleben“ zeigte sich in den Gebieten, die vom Konflikt betroffen sind: Frauen und Mädchen bieten Sex zum Tausch gegen die Stillung ihrer Grundbedürfnisse und jener ihrer Familien an (CEDAW-Ausschuss, 2017).

Das andere Phänomen, das in der Ukraine in den vergangenen Jahren um sich griff, ist jenes der rechtsextremen Gewalt. Im Kontext eines wachsenden Nationalismus, Militarismus und zunehmender Spannungen in der Gesellschaft, erfreuen sich rechtsextreme Gruppen regen Zuwachses. Manche von ihnen nehmen am bewaffneten Konflikt teil und genießen nun einen Status tüchtiger Veteranen; manche sogar Teil des Polizeiapparats. Das wiederum führt oft dazu, dass die Polizei nach rechtsextremen Anschlägen keine Untersuchungen einleitet. Manche der Fälle und die rechtsextremen Gruppen werden im gemeinsamen Brief von Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Organisationen  an ukrainische Politiker_innen aufgelistet (Williamson etc., 2018). Die rechtsextreme Gewalt führt bei Aktivist_innen zu Selbstzensur und Angst, die den Bewegungen die Luft zum Atmen abschnürt.

Die strukturelle Anpassungspolitik und der bewaffnete Konflikt beeinträchtigt das Leben von Menschen, die zu gefährdeten Gruppen gehören. Die eingeschränkten Staatsausgaben im Zusammenhang mit dem andauernden bewaffneten Konflikt haben katastrophale Auswirkungen für viele Frauen. Verarmung und steigende Gewalt betreffen Frauen und andere gefährdete Gruppen zu allererst. Dies führt zur Frage, ob die Rolle der größeren Strukturen beim Thema der Emanzipation der Frau und anderer gefährdeter Gruppen neu zu überdenken ist.

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Quellen

CEDAW Committee (2017). The Effects of Intervention by International Financial Institutions on Women’s Human Rights in Ukraine.

Ekonomichna Pravda (2018). Ukraine Became the Poorest Country in Europe According to Data of IMF.

Folke Bernadotte Academy (2018). The OSCE draws attention to violence against women in Ukraine.

Semchuk, K. (2017). O. Dutchak. The Ukrainian state subsidies workers who produce clothes for big brands.

Williamson H. etc. (2018) Joint Letter to Ukraine’s Minister of Interior Affairs and Prosecutor General Concerning Radical Groups.