Der europäische Green Deal muss einen fairen Übergang garantieren

Luc Trinagle, Generalsekretär von industrAll, erinnert uns: „Die Entkarbonisierung vollzieht sich nicht in einem sozialen Vakuum. Jahrelange Austeritätspolitik hat prekäre Arbeitsverhältnisse und Ungleichheiten geschaffen, während der öffentliche Dienstleistungssektor und die Arbeiter_innenrechte immer mehr unter Druck geraten sind“.

Der europäische Green Deal wird nicht von Erfolg gekrönt sein, wenn es keine starken Regelungen für einen fairen, demokratisch gestalteten Übergang gibt. Wenn der Deal zu einer umfassenden Investition in den Industriestandort EU führt, wenn er europäischen Männern und Frauen hochqualitative Jobs bietet, wenn er regionale und einkommensbezogene Ungleichheiten ausgleicht, wird die europäische Gewerkschaft industriAll (Bund der Gewerkschaften aus dem Produktions-, Bergbau- und Energiesektor) zu seinen stärksten Befürworter_innen zählen. Als Gewerkschaften wissen wir aber: Probieren geht über Studieren. Unsere Unterstützung sollte jedenfalls nicht als Selbstverständlichkeit gelten. Die Arbeiter_innen, die wir vertreten, fordern mehr als nur schöne Worte. Sie wünschen sich einen sozialen Green Deal und haben drei Botschaften an die politischen Entscheidungsträger_innen der EU.

Investitionen in die Transformation der europäischen Industrie sicherstellen

Das Ziel, die EU „kohlenstoffneutral" werden zu lassen, kennzeichnet eine neue Phase der Klimapolitik, da das Ziel nunmehr nicht eine bloße Senkung des Emissionsausstoßes ist, sondern dieser auf das niedrigste Niveau seit 30 Jahren gebracht werden soll. Dabei stehen wir vor einer nie dagewesenen Herausforderung.

Energieintensive Industriebranchen stehen an der Front der Dekarbonisierungsaufgabe. Sie stellen eine bedeutende Quelle von Treibhausgas-Emissionen dar (2015: 15 % der EU-Emissionen) und sind mit 5,9 Mio. EU-weit Beschäftigten wichtige Arbeitgeber_innen. Darüber hinaus stellen sie die Grundlage für wichtige Wertschöpfungsketten in der EU-Wirtschaft und Gesellschaft dar. Der Transportsektor, besonders der Straßengüterverkehr, gibt ein ähnliches Bild ab: Er ist für einen großen Anteil der Emissionen verantwortlich (2017: 25 % der EU-Emissionen) und beschäftigt viele Angestellte (2,6 Mio. Arbeitsplätze allein im Automobilsektor).

Jede ernsthafte Diskussion über das Erreichen der „Kohlenstoffneutralität" wird um die Emissionsreduktion in diesen beiden Sektoren nicht herumkommen. In diesem Kontext muss es eine Priorität darstellen, politische Maßnahmen zu definieren, die eine Transformation dieser Sektoren durch Innovation, großzügige Investitionen und entsprechende Begleitmaßnahmen ermöglichen. Der Bericht Eine Zukunftsperspektive der europäischen Industrie bis 2030 (A vision for the Industry in Europe until 2030) sowie der neue EU-Masterplan 2050 für energieintensive Industriebranchen zeigen, wie diese Transformation, die für den Wohlstand der EU von größter Wichtigkeit ist, aussehen kann.

Eine Reform des Emissionshandelssystems (ETS) scheint unter den bevorzugten Optionen der neuen Kommission zu sein, aber führt auch zu einer Serie wichtiger Fragen. Eine vorschnelle Erhöhung des CO2-Preises für Branchen ohne Kohlenstoff-Anpassungsmechanismus und entsprechende Begleitmaßnahmen wäre jedoch problematisch. Es würde das Risiko einer CO2-Emissionsverlagerung erhöhen, ohne Lösungen zur Beschleunigung der Entwicklung brandneuer CO2-armer Technologien (wie etwa CCS, CCU, Wasserstofftechnologien, Kreislaufwirtschaft) zu bieten, die noch nicht in industriellem Ausmaß auf den Markt gebracht wurden, weil ihre Nutzung für Pionierunternehmen ernsthafte Probleme im Bereich der Wettbewerbsfähigkeit bedeuten würde.

Stahl stellt ein gutes Beispiel für ein solches Risiko dar. Wir haben in der EU in den letzten Jahren einen Anstieg der Stahlimporte erlebt; unter den Hauptexporteuren waren asiatische Staaten, aber auch die Türkei, Russland und die Ukraine. Ein plötzlicher Anstieg des CO2-Preises würde die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Stahlproduzent_innen weiter untergraben. Eine verstärkte Verlagerung der Stahlproduktion in Drittstaaten wäre ein soziales, wirtschaftliches und strategisches Desaster für die EU. Gleichzeitig wäre ihr Einfluss auf die globalen Emissionen besorgniserregend. Viele Staaten, die ihr Stahl am EU-Markt anbieten sind weder dafür bekannt, ein Kohlenstoffbepreisungssystem zu führen, noch ihre Industrieprozesse CO2-arm zu gestalten. Was für die Stahlindustrie gilt, gilt in entsprechendem Maß für andere Sektoren.

Den CO2-Preis im EU-Emissionshandelssystem zu erhöhen stellt möglicherweise nicht die Wunderlösung dar, die den erwarteten Wandel vollbringen wird. Außerdem würden die speziellen Eigenheiten der unterschiedlichen Industriezweige bezüglich technologischer Bereitschaft und Kosten für CO2-arme Optionen damit nicht berücksichtigen. Die Industriearbeiter_innen erwarten von der EU eine umfassende CO2-sparende Industriepolitik, anstatt Spekulationen bezüglich der möglichen Auswirkungen eines höheren CO2-Preises anzustellen. Eine Industriepolitik sollte technologische und investitionstechnische Roadmaps umfassen, die die Dekarbonisierung und die Existenz industrieller Wertschöpfungsketten und damit verbundene Arbeitsplätze in der EU sichern.

Auf regionale Unterschiede achten

Regionale Unterschiede stellen ein anderes Risiko für den Green Deal dar. In ihrer Mitteilung „Ein sauberer Planet für alle" stellt die Kommission fest, dass wirtschaftliche Aktivitäten, die von der Dekarbonisierung besonders stark betroffen sind, in einigen Regionen geballt vorkommen, besonders in Zentral- und Osteuropa. Stein- und Braunkohleabbau, Stromgewinnung aus Kohle, energieintensive Industriezweige und der Automobilsektor stellen wichtige Wirtschaftssektoren und wichtige Arbeitgeber_innen dar. Andererseits vereinigen Regionen im Nordwesten Europas viele Assets, die weitere Investitionen in kohlenstoffarme Wertschöpfungsketten sichern werden, wie Wasserstofftechnologien, erneuerbare Energien oder CCS.

Während die Dekarbonisierung nun also in eine neue Phase eintritt, besteht das Risiko, dass regionale Unterschiede verstärkt werden. Einer Kohäsionspolitik, dem Modernisierungsfond und zielgerichteten Initiativen, wie der „Plattform der Kohleregionen im Übergang" oder dem zukünftigen Just Transition-Mechanismus wird eine wichtige Rolle darin zukommen, alle europäischen Regionen gemeinsam in Richtung Kohlenstoffneutralität zu bringen. Es kann jedoch sein, dass das nicht ausreicht und die Europäische Kommission sollte bei der Gestaltung ihres Vorschlages eines europäischen Green Deals von Anfang an der regionalen Dimension genug Aufmerksamkeit zumessen. Sie muss substanzielle Antworten auf die Herausforderungen bieten, mit denen Industrieregionen, die auf kohlenstoffintensive Aktivitäten angewiesen sind, zu kämpfen haben.

Verteilungsfragen ansprechen

Der Green Deal muss auch aus Verteilungsperspektive diskutiert werden, da viele Instrumente der Klimapolitik Auswirkungen haben können, die sich auf niedrigere und mittlere Einkommensschichten stärker auswirken als auf höhere [1]. Widerstand und Ablehnung sind von den Arbeiter_innen zu erwarten, wenn sie um ihren Arbeitsplatz bangen müssen, starkem Lohndruck ausgesetzt sind und noch dazu eine Kohlenstoffsteuer bezahlen müssen, die Haushalte mit niedrigen Einkommen und die Mittelklasse den Großteil der Dekarbonisierungskosten tragen lässt. Gleichermaßen sollte man bedenken, dass die Dekarbonisierung nicht in einem sozialen Vakuum stattfindet. Jahrelange Austeritätspolitik haben zur Verbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse und Ungleichheiten geführt, während gleichzeitig die öffentlichen Dienstleistungen und Arbeiter_innenrechte eingeschränkt wurden. Der europäische Green Deal, gemeinsam mit anderen EU-Initiativen, sollte daher auch zur Umverteilung von Reichtum beitragen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Gräben zwischen der EU und ihrer Bevölkerung immer tiefer werden, wenn soziale Gerechtigkeit nicht zu einem wichtigen Leitprinzip für alle politischen Maßnahmen der EU in den nächsten Jahren wird.

Jene „zurückgelassenen" Regionen und Gemeinschaften, die unter der Deindustrialisierung besonders zu leiden haben, bieten einen fruchtbaren Boden für politische Unzufriedenheit. Die Europäische Kommission muss diese Warnung ernstnehmen, wenn sie den Green Deal ausarbeitet. Sie muss konkrete Antworten auf die Ängste und Hoffnungen von Millionen von Europäer_innen bereithalten, die für diese Industriezweige arbeiten und von ihnen leben.

Dieser Text wurde ursprünglich in der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Nasze Argumenty, Nr. 02/2019, ISSN 2658-0209 veröffentlicht, der von der Fundacja Napzód herausgegeben wird. 


[1]  G. Claeys, G. Fredriksson, G. Zachmann, The distributional impact of climate policies, Bruegel, November 2018