Der Fall Frankreich: Macron gegen die Eisenbahngewerkschaften

Emmanuel Macron sieht sich derzeit mit der stärksten sozialen Mobilisierung seit seinem Amtsantritt konfrontiert. Diese Mobilisierung ist zwar heterogen und deckt eine große Bandbreite an Problemen ab, geht aber ursprünglich von Macrons Eisenbahnreform aus, die die harsche neoliberale Politik des Präsidenten verkörpert.

Am 14. März gab der französische Premierminister Edouard Philippe die Grundzüge der bevorstehenden Eisenbahnreform bekannt. Eine Woche später demonstrierten Eisenbahner_innen und Beamt_innen gemeinsam im ganzen Land1, wenige Tage danach nahm gleichzeitig mit den von den Eisenbahngewerkschaften ausgerufenen Streikwellen die Mobilisierung der Studierenden gegen die restriktiven Zulassungsbedingungen an den Universitäten Fahrt auf.2

Die gesellschaftliche Auseinandersetzung läuft nun auf Hochtouren und die Regierung versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, das Feuer zu löschen. Dazu gehören Polizeirazzien in Universitäten, um protestierende Studierende zu vertreiben.3 Während Macron und seine Regierung angeben, keinen Zentimeter nachgeben zu wollen, und jeden Kompromiss mit den Gewerkschaften ablehnen, wächst die Entschlossenheit der verschiedenen Gruppen immer weiter.4 Die Streikwellen sollen bis mindestens Ende Juni fortgesetzt werden, die Studierendenbewegung ist die stärkste der letzten zehn Jahre und die öffentliche Meinung ist tief gespalten, ohne dass eine gemeinsame Tendenz zu erkennen wäre. Kurz: Der Kampf tobt und nach einem erfolgreichen, großen Tag der Arbeit sind als nächste Schritte im Kampf gegen die neoliberale Offensive am 3. Mai eine landesweite Bildungsdemonstration und am 5. Mai eine branchenübergreifende Demonstration in Paris geplant, einberufen von Frédéric Lordon, einem kritischen Philosophen, und dem Abgeordneten François Ruffin.

Doch das Herzstück der aktuellen Mobilisierung war, ist und bleibt wahrscheinlich auch die Streikwelle der Eisenbahner_innen. Ihre Mobilisierung ist die stärkste seit 1995 und gilt bei vielen Kommentator_innen und Wissenschafter_innen bereits als historisch5. Dieser Einschätzung liegt einerseits der Mobilisierungsgrad zugrunde (dreimonatige Streikwellen, dazu Demonstrationen und Versammlungen), andererseits die symbolische Bedeutung des Kampfes. Auf dem Spiel steht – nicht mehr und nicht weniger – die Frage, ob diese Regierung dazu in der Lage ist, über den kämpferischsten Sektor von Frankreichs sozialer Bewegung zu siegen. Es steht an, den nächsten Reformen in Macrons neoliberaler Agenda den Weg zu ebnen (Rentensystem und Beamtenstatus). Diese Agenda zielt darauf ab, die sozio-ökonomischen Merkmale der französischen Gesellschaft in eine neoliberale Hölle (oder ein Paradies, je nach Standpunkt) zu verwandeln und damit die sozialen Strukturen tiefgreifend zu verändern. Die von der Regierung umgesetzten Änderungen des Hochschulzugangsverfahrens sind Teil dieses Vorgangs; die von dieser Reform ausgehende soziale Selektion wird einem großen Teil der Söhne und Töchter der niedrigeren sozialen Schichten den Zugang zu Universitäten verwehren und damit Ungleichheit von einer Generation auf die nächste übertragen. Die Eisenbahngewerkschaften und Arbeiter_innen sind sich des Einsatzes in diesem Kampf sehr wohl bewusst, weshalb sie einen breiten Rahmen für ihren Protest gewählt haben. In diesem Prozess gebührt den Einzelheiten der Eisenbahnreform ein besonderes Augenmerk. So wird klar, warum sie die Speerspitze von Macrons Schocktherapie ist.

Ein Teil der von der Regierung vorgelegten Reform ist die Abschaffung des besonderen Beschäftigungsstatus von Eisenbahner_innen für neue Mitarbeiter_innen. Dieser Status gilt für etwa 131.000 von insgesamt 147.000 Mitarbeiter_innen der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF. Mit diesem Status können die Mitarbeiter früher in Rente gehen als der Rest der arbeitenden Bevölkerung (das Renteneintrittsalter liegt für Lokführer_innen bei 52, für andere Eisenbahner_innen bei 57, das staatliche Renteneintrittsalter jedoch bei 62 Jahren) und betriebsbedingte Kündigungen sind ausgeschlossen. Die Regierung stellt diesen Status als einen nostalgischen Archaismus dar, der einem kleinen Teil der arbeitenden Bevölkerung Privilegien verschafft, die im Gegensatz zu den Anforderungen einer modernen, globalisierten französischen Wirtschaft stehen.6 Indem er sich den Sonderstatus der Eisenbahner_innen vornimmt, verfolgt Macron sein Ziel einer Verringerung des Arbeitsschutzes, ganz wie er es letzten Herbst bei der Arbeitsmarktreform getan hat.7 Das erklärte Ziel der Deregulierung ist die Schaffung von Arbeitsplätzen, indem Kündigungen erleichtert und Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechtert werden sollen. Die Abschaffung dieses speziellen Status für neue Bahnmitarbeiter_innen wird der Abschaffung des Beamtenstatus in der kommenden Reform den Weg ebnen. Die hauptsächlichen Möglichkeiten zur Reform, die die Regierung hat, sind die Streichung von 120.000 Stellen im öffentlichen Sektor über einen Zeitraum von fünf Jahren durch freiwilliges Ausscheiden, die Einführung leistungsgebundener Bezüge und ein verstärkter Einsatz befristeter Verträge. Die Abschaffung des Eisenbahner_innenstatus muss vor dem Hintergrund einer allgemeinen Deregulierung der Arbeit und der Abschaffung jeglicher Arbeitsschutzmaßnahmen verstanden werden, wodurch Flexibilität, und als Begleiterscheinung Prekarität, erzeugt werden sollen.

Und doch ist die Abschaffung dieser Arbeitsschutzregelungen ein Ablenkungsmanöver, das den Kern der Reform verschleiert. Die SNCF, seit ihrer Gründung im Jahre 1937 in staatlichem Besitz, soll in eine öffentlich finanzierte Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Die Umwandlung der SNCF steckt den rechtlichen Rahmen für die zukünftige Privatisierung des staatlichen Schienennetzes ab und wird allgemein als die erste Phase einer vollständigen Privatisierung der SNCF betrachtet. Vor einigen Jahren wurden auch France Télécom, Gaz de France und die französische Post in Aktiengesellschaften in staatlichem Besitz umgewandelt, und die ersten beiden sind inzwischen komplett privatisiert. Mindestens wird die Umwandlung des Unternehmens in eine Aktiengesellschaft privatwirtschaftliche Managementstrukturen in den öffentlichen Sektor bringen, insbesondere das Streben nach Profit in allen Abläufen, das auf mittlere Sicht zur Aufgabe nicht rentabler Bahnstrecken, einer steigenden Arbeitslast und steigendem Produktivitätsdruck auf die Mitarbeiter_innen führen könnte. Bei der französischen Post hat die Einführung dieses Managements zur Kommodifizierung aller persönlichen Dienstleistungen und einer deutlichen Verschlechterung der Servicequalität geführt. Bei France Télécom andererseits hat die Personalpolitik zu vielen Fällen von Burnout und Depressionen und sogar Selbstmorden unter den Mitarbeiter_innen geführt. Auch wenn, wie Macron und Philippe versichern, die SNCF nicht privatisiert wird und der Staat 100 % der Anteile hält, wird es radikale Veränderungen im Management geben, und die sozialen Praktiken des öffentlichen Dienstes werden verschwinden. Darüber hinaus gibt es keine Garantie dafür, dass die Privatisierung nicht in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten erfolgt.

Die Angst vor einer bevorstehenden, versteckten Privatisierung steht in Verbindung mit dem dritten Hauptbestandteil der Reform, einem detaillierten Fahrplan für die Liberalisierung des französischen Eisenbahnmarktes. Diese Liberalisierung ist eines der hauptsächlichen Argumente der Privatisierungsbefürworter_innen, denn der Wettbewerb wird die SNCF zwingen, ihre Standards dem privaten Sektor anzupassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wenn die Reform umgesetzt wird, wird das Personentransportmonopol der SNCF schrittweise auslaufen, angefangen im Jahre 2020 mit den Hochgeschwindigkeitstrassen. Bis 2023 sollen die Regionalzüge folgen, mit Ausnahme der Region Île de France, die mit ihren Besonderheiten als bevölkerungsreichste Region bis 2033 Zeit hat. Bis 2033 soll die Vorgabe an alle öffentlichen Verwaltungen, Ausschreibungen für alle mit dem Eisenbahnwesen in Verbindung stehende Märkte durchzuführen, voll umgesetzt sein. Zum Risiko einer mittelfristigen Privatisierung in der Folge der Liberalisierung kommt hinzu, dass eine derartige Marktöffnung höchstwahrscheinlich den Schienenverkehr durcheinanderbringen, Ticketpreise steigen lassen sowie zu einer Verschlechterung der Infrastruktur und der Schließung unrentabler Strecken führen wird. Diese Folgen sind nicht an den Haaren herbeigezogen, sie konnten in verschiedenen europäischen Ländern nach Abschluss der Marktöffnung im Eisenbahnwesen beobachtet werden. So zum Beispiel in Großbritannien, das in den letzten drei Jahrzehnten als Versuchslabor für neoliberale Reformen verwendet wurde. Die Wettbewerbsöffnung und die Privatisierung in den 1990er-Jahren haben den britischen Schienenverkehr in eine derartige Katastrophe geführt8, dass die große Mehrheit der Brit_innen eine Renationalisierung befürwortet9. Der Vergleich mit anderen Ländern in Europa, in denen Wettbewerb, Deregulierung und Privatisierung eingeführt wurden, lenkt unseren Blick auf den Ursprung dieser Prozesse: Das Vierte Eisenbahnpaket der EU.

Die EU ist seit den späten 90ern in das Eisenbahnwesen involviert, als sie ein Weißbuch für die Branche herausgegeben und sich dort für eine Liberalisierung und die Einführung der Marktlogik eingesetzt hat. 2001 wurde im Europäischen Rat ein Paket von Richtlinien angenommen, mit dem eine Trennung der organisatorischen und buchhalterischen Teile der Schieneninfrastruktur von den Eisenbahngesellschaften durchgesetzt wurde. Das führte einerseits zu einer schlechteren Organisation und Zusatzkosten für die Wartung der Trassen (und diese wiederum zu einem Infrakstruktur-Investitionsstau) und andererseits zu weiteren Kosten infolge der Schienenmaut. Das zweite Paket (2004) hat die Wettbewerbsöffnung für den Schienengüterverkehr gestärkt und das dritte (2007) diese Öffnung auf den internationalen Personenverkehr übertragen. Es trat erst 2010 in Kraft, um den öffentlichen Bahngesellschaften die Möglichkeit zu geben, sich auf den Wettbewerb vorzubereiten. Diese Reformen haben sich als ineffektiv und sehr teuer erwiesen: Sie haben die Ticketpreise und die Anzahl der Unfälle in die Höhe getrieben, während die Schienenfrachtvolumina nach wie vor rückläufig sind. Unabhängig von jeder Auswertung vorangegangener Änderungen an den Regelungen zum Schienentransport hat die Europäische Kommission ihr ideologisches Ziel einer vollständigen Liberalisierung der Schiene weiterverfolgt und das vierte Eisenbahnpaket hervorgebracht, über das das Europäische Parlament im Dezember 201610 abgestimmt hat. Die technische Seite ist darauf ausgerichtet, die Interoperabilität der Schienensysteme in der ganzen EU zu systematisieren und Sicherheitsstandards sowie Zulassungen für rollendes Material zu vereinheitlichen. Andererseits kennt der politische Aspekt nur ein einziges Ziel: Die Öffnung des Binnenmarktes für den Personentransport auf der Schiene für den Wettbewerb. Das Vierte Eisenbahnpaket tritt im Dezember 2018 in Kraft, und in der Folge muss die Marktöffnung bis Ende 2020 umgesetzt sein. Mit anderen Worten: Frankreich muss sich den Verordnungen aus Brüssel beugen, seine Gesetzgebung 2018 anpassen und sie bis 2020 umsetzen. Eine derartige Verpflichtung tendiert dazu, die Theorie zu unterstützen, dass die EU für alles neoliberale Böse in Europa verantwortlich sei. Das Spektrum des Wettbewerbs-Dogmas der EU gilt seinen Gegner_innen oft als die wahre Ursache von Macrons Eisenbahnreform. Die Umsetzung des Vierten Eisenbahnpakets in Macrons fünfjähriger Amtszeit war unumgänglich, so die französische Regierung sich nicht einen harten Machtkampf gegen die EU-Verordnungen liefern wollte. Angesichts der neoliberalen Haltung von Macron ist dies wenig wahrscheinlich.

Doch auch wenn das Vierte Eisenbahnpaket für die aktuelle Reform fraglos eine Rolle gespielt hat, haben Macron und seine Regierung eine Reform ausgearbeitet, die weit über die Anforderungen des Paketes hinausgeht. Tatsächlich sind weder die Abschaffung des Eisenbahner_innenstatus noch die Änderung der Unternehmensstruktur Teil des Liberalisierungsvorhabens der EU. Ihre Einbeziehung in den Entwurf erklärt sich einerseits aus der Notwendigkeit, die SNCF auf den Wettbewerb auf der Schiene vorzubereiten, andererseits aus den Schulden der SNCF, die sich auf 46,6 Milliarden Euro belaufen. Die rhetorische Erpressung über die Schulden ist ein klassisches Argument der Neoliberalen, um ihre vorgefertigte Agenda durchzusetzen, und auch dieses Mal zeigt es seine Fehlerhaftigkeit. Die Kosten der besonderen Arbeitsbedingungen der Eisenbahner_innen sind im Vergleich zu den Einkünften der SNCF zu vernachlässigen, während die Kosten der Schienenmaut, die dem für die Schieneninfrastruktur zuständigen Unternehmen zustehen, durchaus erheblich sind. Das Vierte Eisenbahnpaket inspiriert hier eine neoliberale Reform, die in einem breiteren Rahmen zu verstehen ist, nämlich Macrons Agenda. Diese neoliberale Agenda ist ideologisch natürlich auf einer Linie mit der der Kommission, aber wenn möglich ist sie noch intensiver und brutaler, da Macron darauf abzielt, innerhalb von fünf Jahren die französische Wirtschaft und die Sozialstrukturen insgesamt umzugestalten, indem er in jedem Bereich eine Reihe neoliberaler Reformen umsetzt.

Wenn die Eisenbahnreform umgesetzt wird, hat das eine enorme symbolische Wirkung, denn Macron, die öffentliche Meinung und die soziale Bewegung wissen, dass diese Umsetzung den Sieg über einen Kernbereich im Kampf gegen den Neoliberalismus bedeutet – die Eisenbahngewerkschaften. So entsteht ein Schlüsselmoment, nicht unähnlich den Bergarbeiterstreiks gegen Margaret Thatcher. Der Gesetzesentwurf zur Eisenbahnreform wurde am 17. April von der Nationalversammlung angenommen, das Unterhaus des französischen Parlamentes hat den Text nicht wesentlich verändert.11 Ende Mai wird im Senat, dem Oberhaus, eine zweite Abstimmung stattfinden, bevor die parlamentarische Zustimmung in einer letzten Abstimmung in der Nationalversammlung Mitte Juni endgültig wird. Der Machtkampf hat Mitte März begonnen und wird vor Ende Juni nicht aufhören, bisher zeigen weder Macron und seine parlamentarische Mehrheit noch die soziale Bewegung Erschöpfungserscheinungen. In dieser Hinsicht ist der Monat Mai grundlegend, nicht nur aufgrund des 50-jährigen Jubiläums von 1968.

Anmerkungen:

1.    https://www.theguardian.com/world/2018/mar/22/thousands-of-public-sector-workers-go-on-strike-across-france

2.    https://www.theguardian.com/world/2018/apr/05/we-cant-back-down-french-students-dig-in-for-macron-battle

3.    https://www.thelocal.fr/20180420/french-police-raid-university-campus-in-paris-to-evict-student-protesters;  https://www.thelocal.fr/20180413/sorbonne-shut-down-after-riot-police-move-in-to-evict-occupying-students;  http://abcnews.go.com/International/wireStory/police-evacuate-occupied-paris-university-site-54602950

4.    https://www.jacobinmag.com/2018/04/france-student-worker-strikes-macron

5.    https://jacobinmag.com/2018/03/france-railway-strike-macron-sncf

6.    https://www.theguardian.com/world/2018/feb/26/emmanuel-macron-takes-on-french-unions-to-cut-rail-workers-rights

7.    https://www.thenation.com/article/the-false-promise-of-macrons-labor-reforms/

8.    https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/dec/05/the-guardian-view-on-rail-privatisation-going-off-the-tracks

9.    https://www.telegraph.co.uk/business/2017/12/10/calls-rail-renationalisation-growing-can-private-sector-keep/

10. https://ec.europa.eu/transport/modes/rail/packages/2013_en

11. http://www.assemblee-nationale.fr/15/ta/ta0111.asp