Verändern der Kräfteverhältnisse in ganz Europa

Die von Alexis Tsipras, Jean Luc Mélenchon und Pierre Laurent im französischen Parlament abgehaltene Pressekonferenz war ein voller Erfolg. 70 Journalisten aus TV, Radio- und Printmedien, eine Unzahl von Fragen zu Syrizas Positionen, was Griechenland und Europa betrifft. Offensichtlich wird klar, dass in Griechenland etwas von gesamteuropäischer Tragweite geschieht, gleichzeitig mit einer Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in Europa, wobei in einigen Ländern die radikale Linke eine aktive Rolle spielt. In Griechenland, wo Syriza als äußerst verantwortungsbewusste linke – und keineswegs linksextreme – Allianz zur zweitstärksten Partei (weit vor der sozialdemokratischen PASOK) wurde und weiter an Sympathie gewinnt, könnte der Bruch mit der Kette des Neoliberalismus zu einer konkreten Perspektive werden. 
Ebenfalls im Parlament fand auf Einladung von Pierre Laurent, dem Vorsitzenden der Europäischen Linkspartei und der PCF, ein Treffen der Delegation mit Parlamentariern des Front de Gauche sowie Vertretern von Bewegungen und Gewerkschaften (FSU, Solidaires, CGT, Fondation Copernic, Attac, Economistes atterrés, transform!) statt. Von Seiten der PS (Parti Socialiste) standen nur zwei Abgeordnete für ein informelles Treffen mit SYRIZA-Parlamentariern zur Verfügung.1 Ein Meeting auf dem Platz vor der Nationalversammlung und eine Abendveranstaltung mit der griechischen Linken in Paris komplettierten das Programm.
Nach einer Serie von Wahlen in Europa und insbesondere in Frankreich und Griechenland geht es darum, in der Auseinandersetzung mit der sich immer mehr zuspitzende Krise die Breschen zu vergrößern, die es ermöglichen, die Kräfteverhältnisse in Europa zu verbessern, einen Bruch mit der herrschenden destruktiven Logik durchzusetzen. Wenn politische und soziale Akteure sich in ganz Europa dafür einsetzen, dass die Wählerentscheidungen respektiert werden und damit die Demokratie verteidigt wird, dass weder Griechenland noch Syriza isoliert werden können, dann ist das nicht nur eine Frage der Solidarität mit dem griechischen Volk, sondern auch das konkrete Interesse all jener, die für soziale Gerechtigkeit und Demokratie in ihrem Land sowie in ganz Europa eintreten. Die soziale und demokratische Legitimität der EU sowie mancher Regierungen ist verloren gegangen und kann nur durch einen radikalen Politikwechsel wiedergewonnen werden.
Klargestellt werden muss – wie Tsipras sagt –, dass man nicht „zugleich Regen und Sonne haben könne“, das heißt, dass die Regierungen und europäischen Institutionen zwischen Austerität und Wachstum wählen müssen. In ganz Europa haben die Lohnabhängigen, die Arbeitslosen, Prekären und RenterInnen ein gemeinsames Interesse, sich gegen „die Koalition der Kräfte des Finanzkapitals, die Europa beherrscht“ zu verbünden. So kann Tsipras folgerichtig im Deutschen Bundestag sagen, dass Syrizas Vision auch den Interessen der deutschen Lohnabhängigen entspricht. Es ist also kein Zufall, dass die von der Delegation ins Zentrum gestellten Eckpunkte eine große Konvergenz mit den Vorstellungen der europäischen Linken sowie der sozialen Bewegungen und kämpferischen Gewerkschaften zeigen.
Tatsächlich vertritt Syrizas Programm jene Eckpunkte, die heute den Interessen aller europäischen Völker entsprechen: Annullierung des Memorandums für Griechenland und Erstellen eines neuen Vertrages;2 sozial gerechte Steuerreform zur Erhöhung der öffentlichen Einnahmen;  Finanzierung und Garantie der Staatsanleihen durch die EZB unter Umgehen der Märkte; Mobilisierung der Kredite für Investitionen in die Realwirtschaft, zugunsten der Beschäftigung insbesondere der Jugend und im öffentlichen Interesse; öffentliche Kontrolle der Banken; transparentes Audit der „Schulden“ und eine selektive Annullierung der illegitimen Schulden; Annullierung der „Reform“, die das Arbeitsrecht aushebelt. Die Ankurbelung der sieben „produktiven Komplexe“ (Energie, Häfen etc.) in Griechenland und neue Kooperationen auch außerhalb der EU könnten die Wirtschaft im gesamten osteuropäischen Mittelmeerraum beleben, stellte Yiannis Bournos fest.
Nach Hollandes Wahl wird es in Europa darum gehen, satt der bisherigen Ambiguität ein klares „Nein“ zum Fiskalpakt zu erreichen. Ein tatsächliches Wachstum im Interesse der Bevölkerung sowie im Sinne eines neuen Entwicklungsmodells – und nicht zugunsten der Finanz – kann keineswegs unter Fortsetzung der herrschenden Logik erreicht werden. Insofern kann der destruktive Fiskalpakt nicht „ergänzt“ und muss daher gestoppt werden.
In Griechenland werden Wirtschaft und Bevölkerung immer mehr erstickt, weil der Super-Austeritätskurs jeden Ausweg versperrt. Von der europäischen Oligarchie wird offensichtlich in einem Land, dessen BIP 2% des Europäischen BIP ausmacht, getestet, wie weit hier gegangen werden kann, wobei als Waffen Lawinen von Zahlen und das ständige Angstmachen eingesetzt werden. Allerdings hat die griechische Bevölkerung die Kraft aufgebracht, nach großen sozialen Bewegungen und vielen Generalstreiks auch politisch klar zu sagen: „Stopp, keinen Schritt weiter auf diesem Weg!“ In Italien und Spanien nützen die mit immer größeren Schwierigkeiten konfrontierten – keineswegs linken – Regierungen das Zerbrechen der Achse „Merkozy“, um ihre Zweifel anzumelden. Der de-facto-Rausschmiss eines Euro-Landes würde in keiner Weise die Krisenursachen beheben, ein wirtschaftliches und Währungs-Chaos für ganz Europa erzeugen und die Lage der Bevölkerung noch viel weitgehender verschlechtern. Das Dilemma, sagte der Abgeordnete Giannis Milios, ist nicht „Euro oder Drachme“, sondern welches Europa wir brauchen und wollen.
Die Auseinandersetzung um Griechenland kristallisiert heute die europäische Klassenkonfrontation, die gleichzeitig auf sozialer, politischer und ideologischer Ebene tobt. Gegenüber dem europaweit organisierten Block der herrschenden Klasse (Giannis Milios) wird es dringend, auf der Basis der reellen Konvergenzen zwischen sozialen, kulturellen und politischen Kräften unterschiedlicher Natur neuartige Allianzen – eine gemeinsame Front  (Pierre Laurent) – zugunsten einer alternativen Logik zu errichten, und das sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene. Syriza ist sich bewusst, dass eine „Regierung“ zu stellen unter heutigen Bedingungen nicht bedeutet, „die Macht“ zu übernehmen, aber bessere Voraussetzungen schafft, um mit der gesamten Bevölkerung den Kampf für mehr Macht, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu führen. Insofern stellen die Wahlen nur einen Beginn dar.
Das höchstmögliche Wahlergebnis für SYRIZA am 17. Juni wird der beste Schutz für die griechische Bevölkerung sein, wenn es darum geht

  • die bestmöglichen Bedingungen für die Neuverhandlung der Abkommen zu erreichen und
  • die günstigsten Kräfteverhältnisse dafür herzustellen, um in Griechenland und Europa gehört und respektiert zu werden. 

In der Diskussion mit der Syriza-Delegation wurde deutlich, dass im Augenblick mehrere politische Hebel gleichzeitig zur Verfügung stehen, um die politischen Entscheidungen in Europa zu verändern:

  • Die griechischen Wahlen, die ein Kettenglied des Neoliberalismus sprengen können, wobei es gelingen muss, die Isolierung Griechenlands und der Linken zu verhindern
  • Die französischen Wahlen, wo es darum geht, die Kräfteverhältnisse weiter nach links zu verschieben
  • Die bevorstehende Ratifikation des Fiskalpaktes, wobei auf alle ParlamentarierInnen aller Länder der Druck, dagegen zu stimmen und/ oder für ein Referendum einzutreten, von unten verstärkt werden kann

In ganz Europa geht es also sehr konkret darum, eine neue Qualität in der Auseinandersetzung mit der herrschenden Oligarchie unter Einbeziehung immer größerer Teil der Bevölkerungen und Mobilisierung zahlreicher sozialer und politischer Akteure zu erreichen.

  1. In der nächsten Etappe der Delegation in Berlin kam ein Treffen Tsipras mit Sigmar Gabriel, dem Vorsitzenden der SPD, zustande. 
  2. Tatsächlich kann kein/e europäische/r Steuerzahler/in Interesse daran haben, dass Milliarden in ein bodenloses Fass geschüttet werden zugunsten der in Griechenland engagierten privaten Banken, ohne dass der Bevölkerung und der realen Ökonomie damit geholfen wird.