Können wir die digitale Revolution kontrollieren?

Welche Herausforderung stellt die digitale Revolution für die Menschheit und damit für linke und progressive Akteur_innen dar? Um dies zu beantworten, müssen wir sie in den breiteren Kontext der aktuellen Zivilisationskrise einbetten.

ursprünglich veröffentlicht bei Bot Populi;

Es muss uns endlich klarwerden, dass wir nun die Grenzen des Wachstums erreicht haben. Die westlichen Gesellschaften sind für die Entstehung eines überbordenden Konsumismus verantwortlich, der die Lebensgrundlage der Menschheit auf diesem Planeten zerstört. Dieses Modell verbreitet sich zudem immer weiter – überall auf dem Globus, besonders in Süd-, Südost- und Ost-Asien. Diese „imperiale Lebensweise"[1] verwandelt die Erde in ein Treibhaus[2]. Raumschiffe zu bauen, um auf einen anderen Planeten auszuwandern, wird uns nicht retten. Wenn wir es nicht schaffen, auf unserer Erde zu überleben, wird uns das mit Sicherheit auch nicht auf einem unbekannten Planeten gelingen.

Die digitale Revolution scheint die nächste Phase des Neoliberalismus einzuläuten: eine wirtschaftliche Neuordnung abgestimmt auf den post-demokratischen Autoritarismus. Die digitale Revolution begann mit der Erfindung des Internets, entwickelte sich in die ,Industrie 4.0′[3], mit ihren ,smarten‘ digital gesteuerten Produktionsprozessen. Wie vom zeitgenössischen Kapitalismus so vorgesehen, sorgt die digitale Revolution dafür, dass zumindest drei zentrale Interessen der kapitalistischen Klasse gewahrt werden:

Erstens ermöglicht es die digitale Revolution, die Arbeitskräfte effizienter auszubeuten – auf intellektueller sowie emotionaler Ebene, sowohl in ihrer Überwachung als auch in der Kontrolle über ihren Körper. Mit der Befestigung von Tracking-Geräten an der Kleidung der Arbeiter_innen und in der Folge auch in ihren Körpern, können Unternehmen die Bewegungen der Arbeiter_innen in Echtzeit beobachten. So kann zum Beispiel die Unternehmensführung in Paris jede Handbewegung der Arbeiter_innen in der Fabrik in Guangdong verfolgen.

Zweitens geht diese Kontrolle über den Körper der Arbeiter_innen mit der Echtzeitüberwachung des Produktionsprozesses durch den Einsatz von RFID-Chips über die gesamte Wertschöpfungskette einher. Die Überwachung kombiniert mit der Möglichkeit, jedes hergestellte Produkt auf eine_n bestimmte Arbeiter_in zurückführen zu können, stellt das perfekt individualisierte System zur Qualitätskontrolle dar.

Schließlich geben diese webbasierten Kontrollmechanismen Unternehmen die Macht, organisierten Widerstand der Arbeiter_innen zu unterdrücken[4]. Vom US-Militär entwickelt, wurde das Internet so konzipiert, dass es die Kommunikationsmittel zu Kriegszeiten sichern sollte. Da es selbstständig nach funktionierenden Kommunikationskanälen sucht, könnte das System als Netz mit vielen Knotenpunkten einen Atomangriff überdauern. Analog dazu ist der Kapitalismus zunehmend in Netzwerken von Produktionsstätten organisiert – die Fabriken werden aufgelöst. Wenn Arbeiter_innen an einem Ende der Welt streiken, können AI-Anwendungen für die entsprechende automatische Anpassung der internationalen Wertschöpfungsketten sorgen, was Widerstandsbewegungen der Arbeiter_innen den Boden unter den Füßen wegzieht. Dazu dient auch die immer wieder festgestellte Tatsache, dass die einzelnen Fabriken in den Netzwerken absichtlich nicht ganz ausgelastet werden, damit sie im Falle von Streiks die fehlende Produktion der bestreikten Werke sofort ausgleichen können.

Die Digitalisierung unserer Gesellschaften führt zu einem weltweit massiv steigenden Energiebedarf, da die digitale Revolution den Bedarf an Rohstoffen dramatisch erhöht hat.[5] Daher ist zu erwarten, dass wir im globalen Süden in Zukunft weiteren Extraktivismus erleben werden.[6] Die Herausforderung besteht bei diesem Thema darin, dass für die Herstellung von Computerchips verwendete Rohstoffe nicht effizient genug wiederverwertet werden können. Längere Wertschöpfungsketten bedeuten außerdem einen Anstieg des weltweiten Transportbedarfs.

Im globalen Norden ermöglicht die Industrie 4.0 die Zentralisierung der Produktionsmittel. Der globale Süden läuft jedoch Gefahr, eine vorzeitige Deindustrialisierung durchzumachen.[7] Ein alarmierendes Beispiel dafür ist der bevorstehende Niedergang des Bekleidungssektors durch den Einsatz von AI-Robotern. Überall auf der Welt ist die Macht der Arbeiter_innen in Gefahr.[8]

Tiefgreifende Integration und Freihandelsabkommen – Internationale Interessen und die digitale Revolution

Die Länder des globalen Südens müssen darauf achten, nicht in die Falle der jüngsten Generation von Handelsabkommen zu tappen, die von den fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften vorangetrieben werden.[9] Bei Handelsabkommen geht es nicht mehr um die Zölle, die man für den Export von Gütern in ein anderes Land an der Grenze bezahlt. Es geht vielmehr um ,tiefgreifende Integration‘, was den Handel, aber im gleichen Maße auch die Steuerung der Wirtschaft und der öffentlichen Politik mit potenziellen verfassungsrechtlichen Auswirkungen betrifft.

Um die Vereinheitlichung der Normen der unterschiedlichen Nationalstaaten und deren unterschiedliche politische Prozesse einfacher zu gestalten, wurden im vergangenen Jahr sogenannte Ausschüsse für die Zusammenarbeit in Regulierungsfragen eingerichtet.

In der Theorie bestehen diese aus Vertreter_innen der Zivilgesellschaft und staatlichen Behörden der teilnehmenden Länder. In Wirklichkeit sind in diesen Regulierungsprozess nur die Vertreter_innen der Industrie sowie staatliche Funktionär_innen, die für neoliberale Politik lobbyieren, involviert. Erst nachdem ein Kompromiss zwischen diesen Gruppen erreicht wurde, werden den nationalen Regierungen Gesetzesentwürfe unterbreitet. Der Mechanismus der Zusammenarbeit in Regulierungsfragen kann somit als ,Parlament der Kapitalist_innen‘ bezeichnet werden.

Was haben also diese Handelsabkommen, die durch neue globale Regelungen in den Vordergrund gestellt werden, mit der digitalen Revolution zu tun?

In den vergangenen Jahren haben transnationale Unternehmen (TNCs), IT-Firmen und Plattformen an der Entwicklung von AI-Systemen gearbeitet und konzentrieren sich darauf, auf unterschiedliche Art und Weise Daten zu ,ernten‘. Wie aber auch eine Bäuerin Zugang zu den wichtigen landwirtschaftlichen Ressourcen wie Land, Saatgut und andere landwirtschaftliche Produktionsmittel haben muss, um etwas ernten zu können, müssen auch TNCs Zugang zu ihrer wichtigsten wirtschaftlichen Ressource haben: den Daten.

TNCs wollen also dauerhaften Zugang zu ,Datenfeldern‘ in allen Staaten der Welt. Und hier spielen Freihandelsabkommen eine wichtige Rolle, da sie die internen Strukturen nationaler Datensammlungen regeln. Freihandelsabkommen – zumindest in den Versionen, die TNCs vorschlagen – würden regulieren, wie Daten produziert, gesammelt, verarbeitet und schließlich exportiert werden können. Die Visionen großer Technologierunternehmen aus den USA und China ahmen in vielerlei Hinsicht das Kolonialmodell des 19. Jahrhunderts nach. Da sie ausländischen IT-Unternehmen das Recht einräumen, sämtliche Daten in Echtzeit von überall auf der Welt zu sammeln, zu verarbeiten und zu exportieren, verlieren damit viele Länder ihr Recht auf das Eigentum an den Daten, die in ihren Ländern entstehen.

Der innerkapitalistische Kampf

Die beiden Kontrahenten im jüngsten kapitalistischen Machtspiel sind China und die USA, auch wenn ihre Fähigkeiten äußerst unterschiedlich sind. Während China zwar einen sehr schnellen Aufstieg hingelegt hat, können chinesische Firmen nicht auf dieselbe globale Reichweite vertrauen, wie US-amerikanische Unternehmen. Die derzeit umstrittenste Frage zwischen den beiden Mächten ist es, ob Staaten Unternehmen dazu zwingen können, nationale Server zu verwenden, oder nicht.

Global gibt es gerade drei große Auseinandersetzungen in der Handelspolitik: Das erste sind die direkten Verhandlung zwischen USA und China, um den von Trump initiierten Handelskrieg zu beenden. Die zweite ist der Versuch einer globalen Gruppe von 76 Staaten zur Einrichtung eines internationalen Abkommens zum Thema E-Commerce. Diese Gruppe gründete sich im in Davos im Frühling 2019. Auch wenn die symbolische Macht dieser Gruppe sehr groß ist, bleibt ihre politische Schlagkraft unklar, da sowohl China als auch die USA mit ihren deutlich auseinandergehenden Interessen Teil davon sind.

Die dritte Gruppe ist ein ,Zombie‘: die Triade. Diese Gruppe besteht aus den USA, Japan und der EU und hatte ihre Blütezeit in den fordistisch geprägten 1970er- und 1980er-Jahren. Einige Jahrzehnte über wurde dieses Wort nur in Forschungsarbeiten der marxistisch-inspirierten internationalen politischen Ökonomie verwendet. Zombies sterben nicht leicht, und so kehrte auch diese Gruppe zurück ans Tageslicht, und zwar bei der letzten WTO-Minister_innenkonferenz in Buenos Aires im Dezember 2017. Und dies tat sie mit einer gemeinsamen Erklärung, in der die Triade klarstellt, dass ihr strategischer Hauptkonkurrent China sei.

Auf indirekte Weise griff die Gruppe auch die anderen Entwicklungsstaaten an, indem sie erklärte, dass sie sich gegen Subventionen für alte Industrien, staatseigene Unternehmen, sog. „erzwungenen“ Technologietransfer, und lokale Inhaltsvorschriften und –präferenzen einsetzen würde.

Der Weltmarkt stellt daher derzeit das Schlachtfeld zwischen dem Weltmarktführer in IT und Datenwirtschaft (USA) und seinem einzigen Gegenspieler (China) dar. Und die 76 Staaten von Davos, die vom ,Quartett‘ (Triade plus China) geleitet werden, stellen sich gegen die progressive Dritte Welt, die in der letzten Zeit recht erfolgreich, gerade von afrikanischen Regierungen, gegen die monopolitischen Strategien des ,Quartetts‘ angeführt wird.

Čto delat‘ – Und jetzt?

Die unglaublichen Möglichkeiten, die uns AI bietet, machen gleichzeitig jede Hoffnung darauf zunichte, sie aufhalten zu können. Die Herausforderung wird es daher sein, sie zu kontrollieren. Es sind am Ende immer wir selbst, die Gesellschaft, die unsere Zukunft bestimmen – auch wenn die kapitalistischen Machtbeziehungen oft stärker erscheinen als unser kollektiver Wille. Auf nationalstaatlicher Ebene müssen wir unsere Regierungen unter Druck setzen, von sämtlichen Freihandelsabkommen in der Datenwirtschaft Abstand zu nehmen. Dies gilt besonders für Staaten im globalen Süden. Unsere Daten gehören uns; daher ist es das Mindeste, dass diese auf Servern in unseren Staaten gespeichert werden.

In alten Zeiten hätten wir gesagt, dass wir ,Kaderpolitik‘ brauchen. Heute brauchen wir aber Datenwirtschaftsexpert_innen in unserer Mitte. Die Gewerkschaften müssen in der Lage sein, die Scripts zu lesen, zu entwickeln und zu kontrollieren, mit denen die Maschinen und Roboter betrieben werden.

Auf internationaler Ebene benötigen wir eine Stärkung der progressiven Allianzen, um Freihandelsabkommen auszubremsen. Wir müssen uns zusammentun und positive Alternativen zur Nutzung der neuen Technologien im öffentlichen Interesse ausarbeiten[10]. Wir sollten insbesondere darüber nachdenken, wie die Souveränität der Menschen gestärkt werden kann. Und zu guter Letzt: Wir brauchen Räume, in denen wir emanzipatorisches und gleichzeitig allgemein verständliches Wissen über die jüngsten technologischen Entwicklungen erwerben und weiterverbreiten können.


Anmerkungen

[1] Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise – Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus, München 2017.

[2] Siehe hierzu: Auf dem Weg in die "Heißzeit"? Planet könnte kritische Schwelle überschreiten, Potsdam-Institut für Klimafolgeforschung, 6. August 2018.

[3] Siehe hierzu einführend Christoph Wimmer: Industrie 4.0 – Neue Herausforderungen für die europäische Arbeitswelt, RLS Brüssel 2019;

[4] Siehe hierzu: Streikvorhersage durch Künstliche Intelligenz? Start Up-Unternehmen im Fokus. In: Unionize, 22.02.2019.

[5] Siehe hierzu das online Dossier des Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI): Rohstoffsicherung 4.0;

[6] Siehe hierzu die Studie von Powershift: Ressourcenfluch 4.0 – Die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Rohstoffsektor, Februar 2017.

[7] Siehe hierzu das Interview mit dem Minister für Handel und Industrie Südafrikas, Rob Davies: „Wir brauchen einen New Deal“ – SÜDAFRIKAS ANTWORT AUF VORZEITIGE DEINDUSTRIALISIERUNG und den Beginn der vierten industriellen Revolution, Heft 6/2017, afrika süd-Dossier: Entwicklung;

[8] Kiran Stacey, Anna Nicolaou: Stitched up by robots: the threat to emerging economies – Advances in automation could derail hopes of creating millions of low-paid jobs in sectors such as textiles, Financial Times, 18. Juli 2017.

[9] Für eine aktuelle Einführung in die Problematik der von der EU vorangetriebenen Freihandelsabkommen siehe die transform! europe Studie von Lucía Bárcena Menéndez und Pablo Sánchez: Handel und Investitionen – Die sozialen Bewegungen und ihr Kampf gegen Freihandels- und Investitionsabkommen in Europa heute – ein kleines Handbuch, 2018;

[10] Siehe hierzu den Bericht von Lucia Barcena Menendez und Ethan Earle für die Linksfraktion im Europäischen Parlament (GUE/NGL): Towards a Progressive Trade Politics in the European Union, April 2019.