Den Fetisch des Memorandums brechen

Vor zwei Jahren entwarf die griechische Regierung gemeinsam mit der EU, dem IWF und der EZB ein „Memorandum der Zusammenarbeit“ (nunmehr „Memorandum“ genannt) als Voraussetzung für den Erhalt von Finanzhilfe und zur Vermeidung des unmittelbaren Staatsbankrotts. Anfangs wurde das Memorandum als Lösung der Entwicklungssackgasse der griechischen Wirtschaft präsentiert, bald wurde jedoch offenkundig, dass es nur zur gänzlichen Zerstörung letzterer führte. Daher widerspiegelte das Wahlergebnis vom 6. Mai nur zu deutlich das politische Urteil über das Memorandum und hat dessen wahren Gehalt und Ziele auf den Tisch gelegt. Was ist nun sein Inhalt und warum muss Griechenland daraus aussteigen?  
Wenn wir über das Memorandum sprechen, müssen wir mit seinem ursprünglichen Anspruch beginnen: Es gibt eine explizite dialektische Spannung zwischen Form und Inhalt, die deutlich politische Implikationen hat. Es gibt, anders gesagt, einen großen Unterschied zwischen dem, was das Memorandum zu sein vorgibt und dem, was es tatsächlich ist.
Zuerst der Schein. Das Memorandum ist ein Kreditabkommen, das von all jenen Partnern unterzeichnet wurde, die in der Finanzhilfe für Griechenland involviert waren, und legt die Bedingungen dafür fest, unter denen diese Hilfe vonstatten gehen wird. Hinter dieser Vorgehensweise liegt ein Reihe an politischen Annahmen: Das Problem der Schulden wird isoliert auf der Ebene des Einzelstaates betrachtet und nicht auf die Eurozone als Ganzes bezogen, weshalb jeweils spezifische Memoranden aufgesetzt werden sollen, um die Defizitländer zur Ordnung zu zwingen. Die Verantwortung für das Krisenmanagement liegt allein bei dem betreffenden Land, wobei im Falle eines Scheiterns die Schuld dem Versagen der Reformversuche der jeweiligen Regierung angelastet wird. In dieser Hinsicht wird also eine Regierung, wenn sie aus dem eisernen Griff des Memorandums ausbricht, als Schurkenstaat betrachtet, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt und es vorzieht, in eine nur noch tiefere Rezession zu schlittern, indem er seinen selbsternannten Rettern seinen undankbaren Rücken zukehrt. Das ist mehr oder weniger die politische Erzählung, die das griechische Chaos in den Foren der europäischen und globalen Regierungen ebenso wie in den internationalen Medien begleitet.  
Allerdings würde ein genauerer Blick das Wesentliche hinter dem Schein erkennen lassen und eine radikal andere Geschichte zum Vorschein bringen. Das Memorandum ist nichts weiter als eine neoliberale Antwort auf die herrschende Finanzkrise. Es ist ein Rezept, das vorschreibt, dass die Krise einzig und allein durch eine Zurückdrängung des Wohlfahrtsstaats, eine Deregulierung der Arbeitsmärkte und eine gewaltsame Verschiebung eines beträchtlichen Teils des Reichtums von der Arbeit zum Kapital bewältigt werden kann, damit die Verluste des Letzteren kompensiert werden. In dieser Hinsicht ist das Memorandum nicht länderspezifisch; vielmehr ist es die letzte Karte des Neoliberalismus, die er bereit ist in jedem Winkel des europäischen Kontinents auszuspielen. Daher ist eine Aufkündigung des Memorandums kein Akt des Trotzes, sondern ein entscheidender Schritt in Richtung Aufrechterhaltung des ganzen europäischen Gebäudes.
Eine genaue Betrachtung erhärtet diesen Befund über das Wesen des Memorandums als eine neoliberale Antwort auf die Krise, die in Griechenland als eine Art Testfall umgesetzt wird. Die Austeritätsmaßnahmen, die in seinen Klauseln enthalten sind, sind ein Auslöser dafür, dass es in allen europäischen Ländern zur Anwendung kommt, und zwar unabhängig des Grades ihrer Verstrickung in die gegenwärtige Krise. Drei Mechanismen werden angewandt, um das Kapital zu konsolidieren: Der erste ist die Steuerpolitik. Die Unternehmenssteuer ist in den letzten fünf Jahren von 40% auf 20% verringert worden und soll nun weiter auf 15% gesenkt werden. Die Last verlagert sich auf indirekte Steuern. Die Mehrwertsteuer wurde im letzten Jahr von 21% auf 23% angehoben, während die Steuer auf Waren, die der grundlegenden Versorgung dienen, von 10% auf 13% angehoben wurde. Gleichzeitig sind die hohen Einkommen zum Großteil unangetastet geblieben. Der zweite Mechanismus ist die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Kollektivverträge wurden abgeschafft; Kündigungsregelungen sind außer Kraft, während die Löhne in der Privatwirtschaft um 32% gesenkt wurden. Dasselbe gilt für Angestellte im öffentlichen Bereich, die in manchen Fällen Verluste von bis zu 60% in Kauf nehmen mussten. Den dritten Mechanismus bilden Privatisierungen, die ein weites Feld für die Anlage von Kapital eröffnen. Ein massives Privatisierungsprogramm in der Höhe von 56 Milliarden Euro ist geplant. All das ist begleitet von einer Deregulierung des Sozialversicherungssystems und der Demontage des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens. 
Ein klarer Hinweis darauf, dass das oben beschriebenen Politikset völlig gescheitert ist und dass das Memorandum nichts weiter ist als toter Buchstabe, wird am Zeitplan ersichtlich, der für seine Umsetzung vorgesehen ist. Das erste Memorandum wurde im Frühjahr 2010 vorgestellt. Zusammen mit seiner alle drei Monate stattfindenden Evaluierung enthielt das Paket vier wichtige Ergänzungen, die die Unterzeichnung eines zweiten Memorandums Anfang 2012 zur Folge hatten. Abgesehen davon gibt es einen ausgesprochenen Bruch mit den anfänglichen Ansprüchen an das ganze Projekt. Das Memorandum wurde mit dem erklärten Ziel vorgestellt, dass es bis 2012 die Wirtschaft wieder auf Schiene bringen werde, während von 2013 an ein jährlicher Zuwachs des BNP in Höhe von 3,5-4% eintreten sollte. Zwei Jahre nach der akribisch genauen Implementierung der Austeritätsmaßnahmen war das Ergebnis: ein Rückgang des BNP um annähernd 20%, ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit von 11,1% im Jahr 2010 auf 21,7% im Jahr 2012; der Privatkonsum ist um 15% gesunken, die Gesamtinvestitionsrate um 32% und zu guter Letzt ist die Staatsverschuldung von 115% im Jahr 2009 auf 165% im Jahr 2012 angestiegen. Die Zahlen sprechen Bände, und ihre Stimme gibt zu verstehen, dass das Memorandum sicherlich nicht der Fahrplan zur Rettung ist.