Europa als ein ‚Common‘ aneignen

Die politische Krise, die 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Römer Verträge Europa kennzeichnet, ist in ihrer Überlagerung äußerer und innerer Widersprüche nicht leicht zu interpretieren.– Rede bei der Veranstaltung „Ein Europa von und für die Menschen” im Rahmen der Mobilisierung während der Feierlichkeiten in Rom am 23. März.

Europa existiert in einem globalen Kontext und die Flüchtlingskrise erinnert uns daran: 1,5 Millionen Menschen suchen hier Schutz, was ihnen die Europäische Union – eines der globalen Zentren von Reichtum und Macht, sowie Heimat von 500 Millionen Menschen – jedoch nicht gewähren will. Dieser Widerspruch ist eine Schande. Für die Europäer_innen ist es wichtig zu lernen, dass die Krise nicht in der Frage besteht, wie 500 Millionen Menschen 1,5 Millionen Flüchtlinge aufnehmen können. Die Frage lautet vielmehr, wie diese 500 Millionen, die noch immer ein privilegiertes Leben führen, ihren Platz in der nahen Zukunft in einer Welt mit 10 Milliarden Menschen finden werden; und das wird die Welt unserer Kinder und Enkel_innen sein.
Das nächste Jahrhundert wird weder ein US-amerikanisches sein, wie Donald Trump glaubt, und auch kein europäisches. Europa ist nicht darauf vorbereitet, sich auf diese sich verändernde Welt einzustellen. Dies wird schändlich illustriert durch die Verträge, die die EU mit der Türkei geschlossen hat und derzeit mit Libyen schließt, um Flüchtlinge dem europäischen Boden fernzuhalten.
Es geht jedoch nicht nur um externe Herausforderungen. Die europäischen Gesellschaften leben im Widerspruch zueinander. Das Brexit-Referendum hat gezeigt, wie zornige Menschen auf den Abbau des Wohlfahrtsstaats und die Zerstörung der Zukunft ganzer Generationen nach drei Jahrzehnten neoliberaler „Gegenreformen“ und Austerität reagieren. Die Europäische Union wurde so zu einem einfachen Angriffsziel für Rechtspopulist_innen und Nationalist_innen; nicht nur, weil sie ungute und zynische Menschen sind – was sie natürlich sind – sondern weil die EU nicht das tut, was sie versprochen hat.
Deshalb sollte der 60. Jahrestag der Römischen Verträge keine Gelegenheit zur Selbstbeweihräucherung darstellen, sondern vielmehr zur Nachdenklichkeit und Selbstkritik. Diese Einsicht hat sich offenbar noch nicht bis zur EU-Führungsriege durchgesprochen. Jeder erinnert sich wohl an die herablassende Art, in der Jeroen Dijsselbloem von der Bevölkerung des europäischen Südens sprach[1]. Besonders interessant daran ist: Diese rassistische und sexistische Aussage kam nicht etwa von Donald Trump oder einem anderen berüchtigten Rechtspopulisten; sie kam von einem Sozialdemokraten, einem Finanzminister, der die Verhandlungen der Eurogruppe mit Griechenland leitete! Welches Europa erwarten wir uns von einem solchen Menschen?
Kommissionspräsident Juncker ist mit Sicherheit ein anderes Kaliber. Anfang März brachte er im Namen der Europäischen Kommission ein Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union heraus, in dem auch er eingesteht, dass die Bevölkerungen Europas der europäischen Integration in einem beunruhigendem Ausmaß den Rücken kehren. Es ist gut, eine grundlegende Debatte über Europa zu beginnen, die nicht von Wunschgedanken geleitet ist, sondern von „begründetem Pessimismus“.
Vielleicht ist es auch angesichts der vielen, ineinander verschlungenen Probleme ein kluger Schachzug von Juncker, in diesem Buch keinen kohärenten Vorschlag zu präsentieren, sondern unterschiedliche Szenarien.
Die Zukunftsszenarien, die er anzubieten hat, sind jedoch alles andere als vielversprechend. Die voll ausgebaute Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalunion, die er vorzieht, scheint unwahrscheinlich. Die Szenarien, die uns bleiben, sind: Erstens, weitermachen, wie bisher – was allerdings nicht sehr beliebt ist, da just diese „Business-as-usual“-Vorgehensweise die EU schließlich in diese Sackgasse geführt hat. Zweitens, die EU in eine reine Freihandelszone rückzubauen, was einer Kapitulation gegenüber der extremen Rechten gleichkommen und natürlich die Frage aufwerfen würde: Glauben wir denn wirklich, dass wir die großen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaften stehen – wie Digitalisierung, Umweltschutz und die Bewältigung der globalen Ungerechtigkeit – durch Freihandelsabkommen und unerbittlichen Wettbewerb in deregulierten Märkten lösen können?
Dadurch bleibt als einzige Antwort ein Europa der „unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten“. Das gibt uns aber noch keine Antwort auf die entscheidende Frage, die da wäre, in welche Richtung wir uns bewegen wollen. In der Tat, Europa und die einzelnen Gesellschaften stehen am Scheideweg. Die Linke schaffte es bisher nur in Ausnahmefällen, die Richtung vorzugeben. In vielen Staaten artikulieren die Menschen ihre Unzufriedenheit und Ängste vor der Zukunft eher durch ihre Stimme für nationalistische, rassistische Parteien.
Wir stehen der EU kritisch gegenüber, werden aber das Spiel dieser Parteien nicht mitspielen! Seit ihren Anfängen war die EU eine kapitalistische Unternehmung; der Kompromiss, auf dem sie beruhte, bestand in einer Kombination aus Sozialstaat, hoher Beschäftigung und steigender Lebensstandards, jedenfalls für breite Teile der Gesellschaft. Dies ist der Kompromiss, den die herrschende Klasse im Zeichen des Neoliberalismus aufgekündigt hat – das Ergebnis ist heute offensichtlich. Dies ist ein soziales Thema, aber auch ein politisches. Deshalb liegt Juncker falsch, wenn er sagt, dass man Europa aus den Fängen des Nationalismus retten könne, indem man so weitermacht, wie bisher. Auch liegt er falsch, wenn er meint, dass er eine europäische Armee aufmarschieren lassen kann, die die schwindenden Versprechen des Wohlfahrtsstaates ersetzt.
Europa braucht ein soziales und wirtschaftliches Erholungsprogramm, eine Agenda, um seine Produktionsweise zu verändern und sich in Richtung Geschlechtergerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gleichheit zu bewegen. Ein solches Programm ist sowohl vorstellbar als auch umsetzbar. Was ist also das Problem? Was hält uns davon ab, zu erreichen, was notwendig und möglich ist? Vom französischen Philosophen Louis Althusser lernen wir, das Wesentliche darin aufzufinden, was unausgesprochen ist: Das Erstaunlichste an besagtem Weißbuch ist nämlich, dass in seinen 35 Seiten das Wort „Demokratie“ nicht ein einziges Mal vorkommt! Ganz zu schweigen vom Demokratiedefizit – obwohl es nach wie vor stimmt, dass die EU, würde sie um EU-Mitgliedschaft ansuchen, wegen Demokratiemangels abgelehnt werden würde. Wie können wir das bloß akzeptieren?
Die andere große Auslassung ist nicht minder verblüffend: Es geht um die bestehenden EU-Verträge – den Vertrag von Maastricht und von Lissabon, den Stabilitäts- und Wachstumspakt, den Fiskalpakt etc. – ein ganzes System an Vorschriften, mit denen der EU der Neoliberalismus als wirtschaftliche Basis zugrunde gelegt wird. Wenn man sich in einem solchen Kontext jedoch nicht auf diese Verträge bezieht, heißt das auch, sie jeder Hinterfragung zu entziehen. Wie aber kann man ein soziales und gerechtes Europa unter der Alleinherrschaft des freien Marktes erreichen?
Manche beschreiben sich als Euro-Föderalist_innen. Warum nicht! Föderalismus ist jedoch ein abstraktes Konzept, das so einiges bedeuten kann. Eine Stärkung des autoritären Föderalismus – der Mainstream in der aktuellen Debatte – wird uns jedoch keinen Weg heraus aus der Vertrauenskrise zwischen Bürger_innen und EU weisen können.
Was wir brauchen, ist ein Konzept von Demokratie, das das Recht auf demokratische Selbstbestimmung aller Bürger_innen, Staaten, Nationen und Minderheiten respektiert – sowohl für die autochthone Bevölkerung, als auch die erst kürzlich hier eingetroffenen Menschen. Gleichzeitig brauchen wir eine transnationale Demokratie in einem voll ausgebauten Europaparlament, das in einer allgemeinen Wahl von allen Männern und Frauen gewählt wird, die auf europäischem Boden leben; ein Parlament, das die Europäische Zentralbank und den europäischen Stabilitätsmechanismus überwacht, den Haushalt der Union beschließt und die Kommission als seine Exekutive wählt.
Niemand, und nicht einmal die Linke, ist dem Virus des Nationalismus gegenüber immun, der die Menschen und die arbeitenden Klassen in den unterschiedlichen Ländern gegeneinander aufhetzt. Wir dürfen Europa nicht aufgeben und es nicht der extremen Rechten und dem Nationalismus überlassen. Nein, um die europäische Integration zu retten, müssen wir ihn aufhalten!
Unsere Linke, die wir die „radikale Linke“ nennen, stellt sich selbst in die Tradition aller Menschenrechts- und Demokratiebewegungen, die Teil der europäischen Kulturgeschichte sind. Wir haben aus diesen Kämpfen gelernt, dass Demokratie niemals in der Geschichte von den herrschenden Eliten freiwillig zugestanden wurde. Immer wurde sie durch Massenbewegungen in Revolutionen erkämpft. Europa braucht eine revolutionäre, demokratische Massenbewegung, oder seine friedliche Integration droht ein weiteres Mal zu scheitern.
Wir müssen das Konzept der europäischen Einheit von diesen Wenigen zurückholen, die es aus Macht- und Profitgründen zweckentfremdet haben. Wir müssen es uns wieder aneignen, um zu zeigen, dass ein anderes Europa nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist!


Anmerkung:
[1] http://www.euronews.com/2017/03/22/calls-for-eurogroup-president-jeroen-dijsselbloem-to-resign-after-drinks-and