„Der Antikommunismus – die Grundtorheit der Epoche“

Am 19. September des Vorjahres beschloss das Europaparlament mit den Stimmen der Konservativen, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen eine Resolution, in der die Sowjetunion und Nazi-Deutschland gleichermaßen für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich gemacht werden. Europa sei, so die Aussage, Opfer zweier totalitärer Ideologien geworden, deren eine 1945 militärisch untergangen sei, während die andere weiterbestand.

Als erste erhoben die Verbände der Widerstandskämpfer_innen, die FIR (Internationale Föderation der Widerstandskämpfer. Bund der Antifaschisten) und der Verband des italienischen Partisanen_innen (ANPI) gegen die Gleichsetzung von faschistischen Aggressoren und Widerstandskämpfer_innen Einspruch. Dann meldeten sich 200 europäische und außereuropäische Wissenschafter_innen zu Wort: Es sei nicht erst der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 (Molotow-Ribbentrop-Pakt), der den Weg zum Krieg geebnet habe. Immerhin hätten die liberalen westlichen Demokratien durch ihr Verhalten die Nazi-Expansion erlaubt, so bei der Invasion Äthiopiens (1935), dem Spanischen Bürgerkrieg, in dem Deutschland und Italien den rechtsextremen Staatsstreich des General Franco unterstützten (1936), dem "Anschluss" Österreichs (1938) und der Politik des Appeasement in München, die die Zerstörung und Zerstückelung der Tschechoslowakei, nicht nur durch Deutschland, sondern auch durch Polen und Ungarn zur Folge hatte.[1]

Dass es sich bei dieser Debatte um kein akademisches Geschichtsthema, sondern um eine politische Auseinandersetzung handelt, die mit geschichtspolitischen Argumenten ausgefochten wird, zeigt die Kontroverse um den thüringischen Ministerpräsident Ramelow, die zum Rücktritt der CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer geführt hat. Die Frage lautet: Ist, wenn es darum geht, den Griff der Nazis zur politischen Macht abzuwehren, eine wie immer begrenzte Zusammenarbeit von Konservativen und Liberalen mit der Partei Die Linke legitim?

Der Blick ins Geschichtsbuch lohnt auch hier, handelt es sich bei Thüringen doch um das erste deutsche Bundesland, in dem die durch Antikommunismus und Antisozialismus getriebenen bürgerlichen Parteien 1930 der NSDAP Ministerämter überließen. Der Weg, der zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler führte, war betreten.

Die klügsten Köpfe der bürgerlichen Intelligenz zogen aus dem Einknicken der liberalen Demokratie vor dem Faschismus ihre Konsequenzen. 1946 schrieb Thomas Mann

"Ich glaube, ich bin vor dem Verdacht geschützt, ein Vorkämpfer des Kommunismus zu sein. Trotzdem kann ich nicht umhin, in dem Schrecken der bürgerlichen Welt vor dem Kommunismus, diesem Schrecken, von dem der Faschismus so lange gelebt hat, etwas Abergläubisches und Kindisches zu sehen, die Grundtorheit unserer Epoche."[2]

Von derlei Einsicht ist das Europaparlament so weit entfernt wie Donald Trump von kultivierter Bürgerlichkeit. Aus gegebenem Anlass.

Ursprünglich veröffentlicht in Café KPÖ, der Monatsschrift der KPÖ Oberösterreich

Anmerkungen

  1. Den Volltext des von transform! europe initiierten Offenen Briefes finden Sie hier
  2. Thomas Mann, Der Antibolschewismus die Grundtorheit unserer Epoche. In: Die Einheit, Heft 2, 105ff. Dietz Verlag, Berlin 1946.