Ein anderer Weg für Europa

Was Europa im Vorfeld der Europawahlen 2014 erlebt, sind andauernde Spar- und Kürzungsmaßnahmen und wirtschaftliche Stagnation, gepaart mit steigender Ungleichheit und einer wachsenden Kluft zwischen den europäischen Kernländern und den peripheren Staaten Europas.

Die Demokratie wurde auf nationaler Ebene stark untergraben und hat sich auf europäischer Ebene noch immer nicht entwickelt. Die Macht ist in den Händen technokratischer Institutionen und der stärksten Staaten konzentriert. Gleichzeitig werden Populismus und in einigen Ländern gefährliche nationalistische Bewegungen geschürt. Das ist nicht das Europa, das vor Jahrzehnten als ein kriegsfreier Ort, der wirtschaftlich und politisch zusammenwächst, erdacht wurde. Das ist nicht das Europa, das wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt sowie den Ausbau von Demokratie und Wohlfahrtsrechten versprochen hat. Ein radikaler Wandel ist notwendig. Die Europawahlen im Mai 2014 sind eine wichtige Gelegenheit, um die neoliberale Sackgasse Europas und populistische Versuchungen abzulehnen und um zu bekräftigen, dass „Ein anderer Weg für Europa“ möglich ist.
Das Europäische Netzwerk Progressiver ÖkonomInnen (Euro-pen), das ÖkonomInnen und zivilgesellschaftliche Gruppen zusammenbringt, appelliert an die europäischen BürgerInnen und politischen Kräfte, sich an einer europaweiten Debatte über Alternativen zu beteiligen. Wir schlagen fünf Richtungen für einen radikalen Wandel in der europäischen Politik vor. Diese Ideen sollten sowohl für den Wahlkampf als auch für die Arbeit des neuen Europaparlaments und der neuen Kommission zentral sein.
1. Ende der Spar- und Kürzungsmaßnahmen. Die restriktiven fiskalpolitischen Maßnahmen der EU müssen rückgängig gemacht werden, insbesondere der Fiskalpakt und der Stabilitäts- und Wachstumspakt müssen abgeschafft werden. Die Haushaltsregeln müssen geändert werden und das Ziel der „strukturell ausgeglichenen Staatshaushalte“ sollte durch eine koordinierte wirtschaftspolitische Strategie ersetzt werden, die es den Mitgliedsstaaten erlaubt, Krisen durch notwendige fiskalpolitische Maßnahmen zu bewältigen. Ohne eine starke Belebung der Nachfrage wird es keinen Weg aus der aktuellen Stagnation geben. Eine wesentliche Rolle sollten staatliche Investitionen für einen ökologischen Wandel spielen. Auf europäischer Ebene könnten diese durch ein umfangreiches Kreditprogramm der Europäischen Investitionsbank finanziert werden. Um nachhaltige wirtschaftliche Kapazitäten und faire Jobs wiederherzustellen, ist ein europaweiter staatlicher Investitionsplan notwendig. Diese Maßnahmen sollten zentral sein für eine neue europäische Industriepolitik, die sich an dem Ziel eines langfristigen sozialen und ökologischen Wandels des derzeitigen ökonomischen Modells orientiert und eine erhebliche Reduzierung des Verbrauchs von nicht-erneuerbaren Energien fördert.
2. Kontrolle des Geld- und Finanzsystems. Konfrontiert mit Deflation – und dem Teufelskreis aus restriktiver Wirtschaftspolitik, Depression und der Konkurrenz um niedrige Löhne – muss sich die Geldpolitik in der Eurozone drastisch ändern und die Inflation wieder auf mindestens zwei Prozent steigen lassen. Die Europäische Zentralbank muss die notwendige Liquidität für expansive Wirtschaftspolitik bereitstellen und auf dem Staatsanleihenmarkt als lender of last resort („Kreditgeber der letzten Zuflucht“) agieren. Das Staatsschuldenproblem muss durch gemeinschaftliche Haftung in der Eurozone und durch Umschuldungen gelöst werden. Eurobonds (Euro-Staatsanleihen) sollten nicht nur zur Refinanzierung der Staatsverschuldung eingeführt werden, sondern auch um den ökologischen Umbau der europäischen Wirtschaft zu finanzieren. Der Finanzsektor muss durch eine Finanztransaktionssteuer, die Abschaffung von spekulativen Finanzmarktgeschäften und die Kontrolle von Kapitalbewegungen radikal verkleinert werden. Die aktuellen Vorschläge zur Bankenunion setzen nicht an den grundsätzlichen Schwachstellen und der Krisenanfälligkeit des Finanzsystems an; strengere Vorschriften sollten stark spekulative und sehr riskante Finanzgeschäfte verbieten und eine strengere Trennung zwischen Geschäftsbanken und Investmentbanken sollte eingeführt werden. Offshore-Finanzplätze und Steueroasen in der EU müssen durch Steuerharmonisierung und verschärfte Finanzmarktvorschriften abgeschafft werden.
3. Arbeitsplätze schaffen und das wirtschaftliche Auseinanderdriften stoppen. Die Arbeitslosigkeit in der EU ist auf Rekordhöhe gestiegen und ist eine Quelle für wirtschaftliche Schwäche und soziale Zerrüttungen. Neue Jobs in sozial und ökologisch nachhaltigen Branchen zu schaffen sollte eine der wichtigsten politischen Prioritäten sein. Die enormen Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb der Eurozone sollten auch durch verpflichtende Anpassungen auf Seiten der Überschussländer reduziert werden. Der Druck auf Löhne und Arbeitnehmerrechte muss aufhören; Wettbewerbsfähigkeit sollte nicht auf Niedriglöhnen, sondern auf hoher Produktivität und Investitionen beruhen. Auf europäischer Ebene sollten Mindestlöhne – angepasst an das pro Kopf BIP der Länder – eingeführt werden.
4. Ungleichheit reduzieren. Die wirtschaftliche Ungleichheit in der EU ist so hoch wie nie und verhindert eine Rückkehr zu gerechtem Wachstum. Europas soziales Modell muss verteidigt werden und durch Umverteilungsmaßnahmen, soziale Sicherung und Fürsorge basierend auf europaweiter Solidarität ausgebaut werden. Um Ungleichheit zu verringern und den Wohlfahrtsstaat zu verteidigen sind tiefgreifende Veränderungen in den Steuersystemen notwendig: europaweit harmonisierte Besteuerungssätze, die die Steuerflucht von großen Unternehmen mit hohen Profiten verhindern, und ein Wandel in der Besteuerung weg von Arbeit hin zu Vermögen und nicht-erneuerbaren Ressourcen.
5. Demokratie stärken. Wirtschaftspolitische Entscheidungen müssen unter demokratische Kontrolle gebracht werden. Wir müssen Banker, Technokraten und Wirtschaftslobbyisten stoppen, die Entscheidungen, die uns alle betreffen, zu bestimmen. Die Demokratie muss durch stärkere parlamentarische Kontrolle und Bürgerbeteiligung auf nationaler und europäischer Ebene ausgebaut werden. Als Antwort auf die Krise sollte der Umfang der öffentlichen ökonomischen Aktivitäten ausgedehnt werden. Dies schließt die Bereiche Finanzierung, Umbau des Produktionssektors und öffentliche Dienstleistungen ein. Die aktuellen Verhandlungen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (THIP) sehen drastische Einschnitte in demokratische Prozesse, in den politischen Spielraum und in die öffentliche Regulierung vor; es sollte eine der Prioritäten des neuen Parlaments sein, die THIP aufzuhalten.
Wir bitten die Bürgerinnen und Bürger Europas, diese Vorstellung „Eines anderen Weges für Europa“ zu unterstützen und Kandidaten und politische Kräfte zu wählen, die sich dafür engagieren. Die Bildung einer progressiven Koalition im neuen Europäischen Parlament ist ausschlaggebend, um die fehlgeschlagene Politik der Großen Koalition zwischen Mitte-Rechts und Mitte-Links, die einen Großteil Europas regiert, zu beenden.
Europa wird nur überleben können, wenn ein anderer Weg eingeschlagen wird. Europa muss soziale Gerechtigkeit, ökologische Verantwortung, Demokratie und Frieden bedeuten. Ein solches anderes Europa ist möglich; die Wahl liegt in unseren Händen.

Europäisches Netzwerk Progressiver ÖkonomInnen
(Euro-pen)
Zu den Mitgliedsorganisationen zählen: EuroMemo Group, Economistes Atterrés (Frankreich), Sbilanciamoci! (Italien), Transnational Institute (Niederlande), EconoNuestra (Spanien), Econosphères (Belgien), Beigewum (Österreich), transform! europe, Critical Political Economy Research Network
Für mehr Informationen besuchen Sie www.euro-pen.org oder schreiben Sie an info@euro-pen.org.

Erst-UnterstützerInnen:

Nuria Alonso, Universidad Rey Juan Carlos, Madrid
Elmar Altvater, Attac Germany
Jordi Angusto, Universidad Autónoma Barcelona
Giorgos Argitis, University of Athens
Etienne Balibar, University of Paris X Nanterre and University of California
Irvine Frederic Boccara, University of Paris 13 and Économistes Atterés
Luciana Castellina, founder of Il Manifesto
João Cravinho, Former member of the Portuguese Government and of the Board of the EBRD
Donatella Della Porta, European University Institute
Trevor Evans, Berlin School of Economics & Law and EuroMemorandum
Marica Frangakis, Nicos Poulantzas Institute, Athens and EuroMemorandum
Maurizio Franzini, Sapienza University of Rome
Nancy Fraser, New School for Social Research
Ulisses Garrido, Director of the Education Department at the ETUI
Susan George, honorary president of Attac France, Board President of TNI
John Grahl, Middlesex University, London and EuroMemorandum
Rafael Grasa Hernandez, ICIP, Barcelona
Mary Kaldor, London School of Economics
Maurizio Landini, General Secretary, Metal Workers’ Union, FIOM-CGIL, Italy
Dany Lang, University of Paris 13 and Économistes Atterés
Francisco Louçã, Professor of Economics, ISEG, Lisbon University
Bengt-Ǻke Lundvall, University of Ǻlborg, Denmark
Dimitris Milonakis, University of Crete and Interim coordinator of IIPPE
Chantal Mouffe, University of Westminster, London
Henrique Neto, Entrepreneur and former Socialist Member of Parliament
Pascal Petit, University of Paris 13
Mario Pianta, University of Urbino and Sbilanciamoci!
Dominique Plihon, University of Paris 13 and Économistes Atterés
Gregorio Rodríguez, Universidad Alcalá Henares, Madrid 
Rossana Rossanda, founder of Il Manifesto
Saskia Sassen, Columbia University, New York
José Almeida Serra, Vice President of the Portuguese Economic and Social Council
Henri Sterdyniak, French Economic Observatory (OFCE) and Économistes Atterrés
David Trillo, Universidad Rey Juan Carlos, Madrid
Koldo Unceta, Universidad País Vasco
Peter Wahl, World Economy & Development Association (WEED), Germany
Hilary Wainwright, Co-editor, Red Pepper, Great Britain
Frieder Otto Wolf, Free University Berlin and EuroMemorandum