Nach der Niederlage. Neue Herausforderungen für die radikale Linke nach den Europawahlen.

Angesichts weitreichender Veränderungen der Kräfteverhältnisse innerhalb der EU braucht die Linke neue Strategien. Eine Analyse.

Die radikale Linke ist nunmehr die kleinste Fraktion im Europäischen Parlament. Sie hat im Vergleich zu 2014 ca. 20% ihrer Mandate verloren. Mit 5,46% erreicht sie eine WählerInnenzustimmung, die jener zum Ende der 1980er Jahre gleicht. Dies allerdings unter den Bedingungen eines klaren Rechtsrucks. Die Linksparteien blieben vor allem in Spanien, Frankreich und Deutschland weit unter ihren Erwartungen.

Innerhalb der Fraktion der radikalen Linken bildet die spanische Unidos Podemos dennoch mit 6 Abgeordneten die stärkste Partei – gemeinsam mit der griechischen Syriza. Aus Deutschland entsendet DIE LINKE 5 VertreterInnen, hinzu kommt ein Abgeordneter der Tierschutzpartei. Mit je zwei Sitzen sind der portugiesische Bloco und die portugiesische linksgrüne Allianz unter Einschluss der KommunistInnen, Sinn Féin und die zyprische AKEL vertreten. Über je einen Sitz verfügen die schwedische Vänsterpartiet, die dänische Einheitsliste, die finnische Linkspartei und die belgische Arbeiterpartei PTB-PVDA. Das gilt auch für die tschechische KSČM, die damit jedoch weiter an Einfluss verliert. Nicht mehr im Europäischen Parlament (EP) vertreten sind die italienischen Linken, die 2014 mit der Liste Tsipras ins EP eingezogen sind. Die slowenische Levica hat es mit 6,3% WählerInnenunterstützung nicht geschafft. Ob sich Mélenchon‘s La France Insoumise mit ihren 6 Abgeordneten der Fraktion der radikalen Linken anschließen wird, ist derzeit noch offen.

Unsere Nachwahlanalysen finden Sie hier;

Konservative und SozialdemokratInnen verlieren ebenfalls je knapp 20% ihrer Mandate[1], sie bleiben aber stärkste Fraktionen: 182 Sitzen gehen an die Konservativen (EVP), 153 an die SozialdemokratInnen (S&D).

Mit den Grünen und Liberalen gewinnen explizit zwei Pro-EU-Parteienfamilien. Die Grünen haben nunmehr 75 und die Liberalen – dank der Entscheidung Macrons, sich dieser Fraktion zuzuordnen – 108 Sitze. Die Rechtsparteien der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) und die noch weiter rechtsstehenden Fraktionen Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) und die neu gegründete Fraktion Identität und Demokratie (ID) erhalten insgesamt 178 Sitze, wobei sich die endgültige Formierung der Rechtsfraktionen erst nach erfolgtem Brexit zeigen wird. Wenn hierzu noch weitere Parteien wie die FIDEZS hinzugezählt werden, kommen sie auf 25% der WählerInnen.

Damit gibt es im EP neben Konservativen und SozialdemokratInnen/ Sozia­listInnen mit ca. 25% einen Pro-EU-Block mit Grünen und Liberalen und einen stark nationalistisch orientierten Anti-EU-Rechtsblock. Zugleich zeigt das Wahlergebnis, dass die Rechtsparteien weniger stark wurden, als sie selbst erhofft hatten. Dennoch gibt es im EP eine klare rechte Schlagseite, die über die Erhöhung von 22% (2014) auf 25% (2019) hinausgeht, vor allem, wenn hierzu der Einfluss der Rechtsparteien in den nationalen Regierungen und über den Europäischen Rat berücksichtigt wird. Die politische Rechte ist in Belgien, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Ungarn, Italien, Polen an der Regierung oder Teil der Regierung. In Italien und Frankreich wurden bei den Europawahlen die Lega bzw. Le Pens Rassemeblement National (RN) stärkste Parteien. Und: Sie nehmen mit der Verschiebung der Agenda längst Einfluss auf nationale und europäische Politik. 

Zugleich wurden jedoch mit Liberalen und Grünen jene Parteien verstärkt gewählt, die klare Pro-EU-Positionen vertreten und sich für eine Vertiefung der EU-Politik aussprechen. Dies ist mit Blick auf das Brexit-Paradoxon nicht unwichtig. Einerseits rückten angesichts des Brexit-Chaos nahezu alle Parteien – ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung – von ihrer Anti-EU-Position und vor allem von ihren Exit-Positionen im Wahlkampf ab. Andererseits wurde die Brexit-Partei mit über 30% der WählerInnenstimmen stärkste Partei in Großbritannien.

Die Wahlbeteiligung lag EU-weit bei 50,93% – das sind deutlich mehr als 2014 mit 43,09%, wobei die Differenzen zwischen den einzelnen EU-Ländern traditionell sehr groß sind. So lag die Wahlbeteiligung in der Slowakei bei nur 22,74%, in Portugal bei 31,40%, in Spanien über 60%. In Ländern mit Wahlpflicht liegt die Beteiligung zum Teil über 80%. Bemerkenswert (mehr als 10%) erhöht hat sich die Wahlbeteiligung in Tschechien (28,72%), Deutschland (61,41%), Ungarn (43,36%), Rumänien (51,07%) und Spanien (64,30%).

Quelle: Webseite des Europäischen Parlaments,

GUE/NGL: European United Left/ Nordic Green Left (radikale Linke); S&D: Group of the Progressive Alliance of Socialists and Democrats (SozialdemokratInnen); ALDE: Alliance of Liberals and Democrats for Europe (Liberale); EPP: European People’s Party (Konservative); ECR: European Conservatives and Reformists (Rechtsfraktion); EFDD: Europe of Freedom and Direct Democracy (Rechtsfraktion), ID: Identity and Democracy (Rechtsfraktion); NI: nicht zugeordnet;

Veränderte Kräfteverhältnisse

In den nächsten Wochen und Monaten ist ein verstärkter Kampf um die Frage der Gestaltung der künftigen EU zu erwarten: Vertiefung der EU und hierzu die Schaffung neuer EU-Institutionen und Instrumente oder Rückbau der EU-Institutionen, Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Ebene nationaler Regierungen bis hin zum Bruch europäischer Verträge und Richtlinien unter Inkaufnahme angedrohter Sanktionen. Dieser Kampf wird von rechts vor allem auf jenen Feldern geführt werden, die den demokratischen Charakter der EU weiter infrage stellen und die Menschenrechtspositionen und ihre reale Durchsetzung schwächen. Die Widersprüche, die sich hierzu zwischen den Fraktionen und herrschenden Blöcken herausbilden, müssen in weiteren Analysen herausgearbeitet werden, ebenso die Risse innerhalb und zwischen den herrschenden Blöcken.

Betrachtet man die Kräfteverhältnisse der einzelnen Fraktionen mit Blick auf mögliche Mehrheitsverhältnisse u.a. zur Wahl des EU-Kommissionspräsidenten, so wird klar, dass die beiden bisherigen großen Fraktionen der Konservativen und SozialdemokratInnen mit 44% der Abgeordneten nicht mehr wie bisher als informelle ,große Koalition‘ agieren können. Wenn es also um die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten (und später um die Wahl des EZB-Präsidenten) geht, würde eine Kooperation von EVP und S&D nicht ausreichen. Eine Mehrheitsbildung unter Ausschluss der europaskeptischen Fraktion EKR und der beiden Rechtsfraktionen ID und EFDD erfordert entweder die Einbeziehung der Grünen oder der Liberalen. Das kann nur durch die Eröffnung von Angeboten funktionieren – thematisch, strukturell oder personell. Da weder Macron noch die Grünen sich für Manfred Weber ausgesprochen haben, wird noch ein anderes Problem deutlich. Innerhalb beider Fraktionen verlieren die VertreterInnen aus Deutschland, Italien und Frankreich an Gewicht. In welchem Maße das jedoch politikwirksam wird, ist derzeit noch unklar.

Auch ein theoretisch mögliches Bündnis von Konservativen und Rechtsblock verfügt nicht über eine Mehrheit im Europaparlament. Für die Konservative und SozialdemokratInnen bedeutet dies, dass sie sich PartnerInnen suchen müssen.

Wenn also eine Mehrheit von Konservativen und SozialdemokratInnen im EP ohne den rechten Block erreicht werden soll, haben sie dafür folgende Möglichkeiten:

a)   eine ,große liberale Koalition‘ zu bilden zusammen mit den Liberalen, die grundsätzlich für die Fortsetzung der bisherigen Politik und zugleich für eine Vertiefung der EU stehen – in Auseinandersetzung mit den Rechtsparteien.  Dieses Projekt stünde – ohne die bisherige Politik grundsätzlich zu verändern – immerhin für verstärkte EU-Integration und Zusammenarbeit vor allem auf den Feldern der Wirtschafts- und Außenpolitik, oder

b)   eine ,große grüne Koalition‘ zusammen mit den erstarkten Grünen zu bilden. In einer solchen Konstellation bestünde die Möglichkeit, ein grün-soziales oder grün-neoliberales Projekt zu entwickeln, als europäischen ,Motor‘ für einen ,grünen‘ Kapitalismus. In welchem Maße sich dieser ,Motor‘ in Richtung einer sozial-ökologischen Transformation gestalten lässt, wird maßgeblich von der Stärke und Ausrichtung sozialdemokratischer/sozialistischer Parteien abhängig sein und von der Stärke einer europäisch mobilisierungs- und durchsetzungsfähigen radikalen Linken.

c)    Selbstverständlich gibt es auch die Möglichkeit des Agierens mit wechselnden Mehrheiten. Ein solcher Ansatz sichert den Konservativen ein weitestgehendes Festhalten am Status quo mit erforderlichen grünen Anpassungen und partiellen Vertiefungen der EU. Dies könnte insbesondere in der Außen-, Klima sowie der Friedens- und Sicherheitspolitik geschehen – letztlich stehen auch die Grünen in Europa für eine wehrhafte Verteidigung europäischer Werte.

Ergebnisse der Europawahlen: 2014 und 2019 im Vergleich (in % der Stimmen)

Quelle: Daten europäisches Parlament, eigene Zusammenstellung

Zu den Linken

Betrachtet man den linken Teil des Parteienspektrums, so kommen die Linksparteien, die SozialdemokratInnen, Sozialisten und Grüne zusammen lediglich auf knapp 35%. Das schwächste Element in diesem Teil des politischen Spektrums bilden die radikalen Linken.

Wahlergebnisse
GUE/NGL Grüne/EFA S&D ALDE EPP ECR EFDD ENF/ID NI
2019 in % 5,46 9,99 20,37 14,38 24,23 8,26 5,73 9,72 0,93
2014 Sitze 6,92 6,66 25,43 8,92 29,43 9,32 6,39 6,92
Diff. -1,46 +3,33 -5,06 +5,46 -5,2 -1,06 -0,66 9,72 -5,99
2019 Sitze 41 75 153 108 182 62 43 75 7
2014 Sitze 52 50 191 69 221 70 48 52
Diff. -11 +25 -38 +41 -39 -8* -5 75 -45

Quelle: Europäisches Parlament;

*Anmerkung: Bei der Berechnung der Sitze von EKR, EFDD und ENF muss berücksichtig werden, dass ein Teil der Parteien zwischen diesen Fraktionen wechselte. Es ist deshalb sinnvoller, die Gesamtzahl der Mandate dieser Fraktionen zu berücksichtigen. D.h. EKR+EFDD 2014 = 118; EKR+EFDD+ENF/ID 2019 = 178;

Die Parteien der radikalen Linken der bisherigen konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL) konnten lediglich 5,46% der Stimmen auf sich vereinen und können 41 Abgeordnete in das Europaparlament entsenden, wenn sich La France Insoumise (LFI) der Fraktion anschließen. Sollten die derzeitigen Verhandlungen zwischen den nationalen Delegationen und LFI scheitern, wird die im Wahlkampf praktizierte Spaltung der Linken auf EP-Ebene fortgesetzt – und dies angesichts einer schwachen Linken, deren WählerInnenpotential seit 1989 mit wenigen Ausnahmen bei nicht mehr als ca. 5% liegt. Dies bedeutet, dass es Linksparteien seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus nicht gelang, sich aus ihrer Defensive herauszu­ar­beiten. Zugleich haben sich die Wirkungsbedingungen zur Durchsetzung linker Politik durch den Rechtsruck in der EU und letztlich der Schwäche der sozialdemokratischen und sozia­listischen Parteien – trotz Erfolge einzelner Parteien – verschlechtert. Mit dem Ende der Nachkriegsperiode haben nun auch die westeuropäischen kommunistischen Parteien ihre gesellschaftliche Bedeutung und Relevanz als bedeutsame Kraft im Kampf gegen Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg verloren. 

Der griechische Zweig (MeRA25) des Bündnisses von DiEM25 scheiterte mit 2,99% an der Drei-Prozent-Hürde, um ins EP einziehen zu können. Yanis Varoufakis ist in Deutschland angetreten und konnte 130.072 Stimmen, d.h. 0,3% der WählerInnenstimmen auf sich vereinen. In Griechenland waren es ca. 140.000 WählerInnen − zu wenig für einen Einzug. Möglicherweise verweist dies jedoch auch auf ein grundlegendes Problem zur Implementierung und Legitimierung transnationaler Listen. Zumindest war der hier versuchte Weg von Varoufakis zur Bildung einer solchen Liste in Konkurrenz zur LINKEN – trotz Bekanntheitsgrad ihres Spitzenkandidaten – nicht erfolgreich. 

Zur geschwächten Position der radikalen Linken kommt hinzu, dass auch eine neue Fraktion der GUE/NGL nur unter der Bedingung einer föderalen Struktur gebildet werden kann – zu weit auseinander gehen die Positionen zur Rolle der Linken im EP, zum Politikverständnis, zu Strategie und Organisierung und auch zu einzelnen Themenfeldern. Eine europäisch ausgerichtete Strategieentwicklung wird darüber hinaus durch die Dominanz national orientierter linker Politik-Ansätze und ihre Verlängerung auf die europäische Ebene zusätzlich erschwert. So ist die Arbeit an einer gemeinsamen Agenda der föderalen Fraktion oft nur bei einzelnen Fragen – insbesondere der sozialen Frage oder der Frage hinsichtlich internationaler Handelsabkommen (TTIP) – möglich. Der Anspruch, mit einer Stimme zu sprechen, widerspricht ihrem föderalen Charakter.

Um das Ausmaß der Veränderungen noch besser verstehen zu können, soll ein Blick auf die Verluste und Gewinne geworfen werden. Im Vergleich zu 2014 führen die Verluste von 11 Sitzen bei den Linken, 38 Sitze bei den SozialdemokratInnen und 39 Sitze bei den Konservativen zu je 20% Verlust ihrer früheren WählerInnen – vor allem in den Kernländern der EU. Anders bei Grünen und Liberalen: Für die Grünen bedeutet der Gewinn von 25 Sitzen, die Erhöhung ihrer Mandate um 50%. Die Liberalen konnten die Zahl ihrer Sitze mehr als verdoppeln.

Ergebnisse der Europawahlen: 2014 und 2019 im Vergleich (in Anzahl der MandatInnen)

Quelle: Webseite des europäischen Parlaments, eigene Darstellung;

Anteil der WählerInnen bei den Europawahlen der Fraktionen GUE/NGL, SozialdemokratInnen/SozialistInnen, Grünen, Liberalen und Konservativen von 1979 bis 2019 (in %)

Fraktion im EP

 1979

1984

1989

 1994

 1999

 2004

2009

 2014

 2019

GUE/
NGL

10.7

9.4

5.4 (GUE) 
2.7 (KdL*)

4.9

6.7

5.60

4.76

6.92

5.46

S&D

27.3

30.0

34.7

34.9

28.8

27.30

25.00

25.43

20.37

Grüne/
EFA

4.6

5.8 (Gr.)
2.5 (RBW**)

4.1

7.7

5.80

7.47

6.66

9.99

ALDE

9.8

7.1

9.5

7.8

8.0

12.00

11.41

8.92

14.38

EVP

26.3

25.3

23.4

27.5

37.2

36.70

36.01

29.43

24.23

*KdL: Koalition der Linken; **RBW: Regenbogen-Fraktion;

Quelle: Wikipedia/ eigene Berechnung und Darstellung;

Was hat sich im Vergleich zu 2014 verändert?

Zu den Kontinuitäten gehört der Trend der abnehmenden Bindungen der ehemaligen Großparteien-Familien: Sozialdemokratische/sozialistische und konservative Parteien schwächen sich deutlich ab und verlieren systematisch an gesellschaftlicher Bindungskraft. Bei den Europawahlen 1994 erreichten die SozialdemokratInnen insgesamt noch knapp 35% der WählerInnen – aktuell sind es nur noch ca. 20%. Die konservativen Parteien bewegen sich heute – im Jahr 2019 – mit ca. 24% der Stimmen auf dem Niveau von 1989.

Erstmalig seit den Europawahlen 1979 bleiben die beiden Großparteien zusammen unter 50%. Damit müssen sie, um Mehrheiten zu erreichen, auf andere Parteienfamilien zugehen. Wenn sie dies unter Ausschluss der Rechtsparteien und -fraktionen tun wollen, müssen sie die Unterstützung der Grünen oder Liberalen herstellen. Beide der Pro-Europäischen Parteienfamilien könnten damit immerhin zu einer Modernisierung der EU-Institutionen und zu einem moderaten Politikwechsel beitragen: Grüne Modernisierung, Liberale Vertiefung der EU, Stärkung des EU-Rechts sowie der Einflussnahme von EU-Institutionen auf nationale Politiken – bis hin zur Schaffung neuer Instrumente. Dies jedoch in Auseinandersetzung mit der politischen Rechten, so dass gleichermaßen mit verschärften Auseinandersetzungen bis hin zu Blockaden zu rechnen ist.

Die Ergebnisse der Europawahlen 2014 verwiesen auf eine politische Polarisierung: In den Kernländern und in den nördlichen EU-Ländern wandte sich der Protest gegen die vorherrschende Politik nach rechts zugunsten rechtspopulistischer und rechtskonservativer Parteien. In den südlichen Ländern führte der Protest nach links, vor allem in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal. Selbst in Italien reichte die Kraft, wieder ins EP einzuziehen – dank Liste Tsipras. 2019 besteht diese Polarisierung nicht mehr. Der Protest führt nicht mehr nur im Norden, sondern auch in den südlichen und mittelosteuropäischen Ländern der EU zur erfolgreichen Herausbildung neuer Rechtsparteien, die es zu einem Teil 2014 so nicht gab. Lega ist nicht mehr Lega Nord – sie wurde stärkste Kraft in ganz Italien und kehrte mit den Europawahlen die nationalen Kräfteverhältnisse um. Zugleich stagniert im Unterschied zur erstarkenden, bzw. sich verfestigenden Rechten die Entwicklung der Linken.

Die Ergebnisse der Europawahlen 2019 zeigen eine Polarisierung der Parteienfamilien nicht mehr entlang der Auseinandersetzungen um die Austeritäts- und Sozialpolitik, sondern um die Frage nach Vertiefung oder Rückbau der EU bis hin zur Freihandelszone, zu einer sich stärker ,grün‘ und ,digital‘ – also Zukunftsfragen zuwendenden – Entwicklung der EU oder einer EU, die mit stärkeren Interventionsmöglichkeiten für nationale Regierungen oder Parlamente am Bisherigen festhält.

Die Parteien der radikalen Linken sind im Unterschied zu 2014 nicht unter einem Spitzenkandidaten geeint, sondern gespalten in den Wahlkampf gegangen. Drei gegeneinander konkurrierende europäische Projekte: Maintenant le Peuple (MLP), DiEM25 und die Europäische Linkspartei (EL) haben eine Niederlage erfahren. Da alle Parteienprojekte in ihrer Diversität von Herkunft, Politik- und Organisationsverständnis, Strategie und Kampagnenausrichtung verloren haben, lassen sich einfache Antworten nicht formulieren. Es gelang ihnen nicht, sich auf die neu ausprägende politische Situation u.a. mit neuen Konfliktdimensionen einzulassen und diese gemeinsam strategisch und vor allem europäisch zu bearbeiten.

Zwischen 2014 und 2019 vollzog sich der Wandel von Konfliktlinien in Europa auch vor dem Hintergrund einer sich gravierend verändernden globalen Situation.  Angesichts dieser Entwicklungen und die offene Sicht auf das Brexit-Chaos war die Zustimmung zur EU außerordentlich hoch.
Die Daten von Eurobarometer vom November 2018 verweisen auf folgende Entwicklungen: In den Jahren 2011/2012 – dem Zeitpunkt der stärksten Mobilisierung sozialer Bewegungen gegen die Austeritätspolitik der EU – bis zum Jahr 2014 zählten vor allem in Spanien, Portugal und Griechenland die Arbeitslosigkeit sowie die öffentlichen Finanzen zu den wichtigsten Herausforderungen auf europäischer Ebene. Diese Konfliktkonstellation half den Linken 2014 erfolgreich zu sein. Nach 2015 hat sich jedoch die Gewichtung der wichtigsten Aufgaben der EU verschoben, zunächst zugunsten der Bearbeitung von Terrorismus und Einwanderung. Deutlich niedriger gewichtet als 2014 waren ab 2015 die Probleme: Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Situation in der EU und staatliche Finanzen. Die sich verändernde Bedeutung der Klimakrise zeigte sich zu diesem Zeitpunkt als deutlich zunehmende, aber noch nicht polarisierende Konfliktdimension.

Befragt, was in den Ländern der EU auf nationaler Ebene wichtig zu bearbeiten wäre, zeigt sich ein ähnliches Bild: 2014 dominieren die Probleme von wirtschaftlicher Entwicklung, Arbeitslosigkeit und öffentlichen Finanzen. Ende 2018 lagen unterschiedliche Themenfelder, die nationaler Bearbeitung bedürfen, dicht beieinander: Arbeitslosigkeit, steigende Preise und Inflation, Migration, die wirtschaftliche Situation und die Pensionen. Ende 2018/Anfang 2019 gibt es keine herausragenden polarisierenden Themen – mit Ausnahme der Migrationsfrage. Die Klimakrise wird Ende 2018 als eine auf nationaler Ebene zu bewältigende Aufgabe bei Eurobarometer noch nicht genannt, auch wenn sie in einzelnen Ländern längst seit langem präsent ist. Klimaschutz als europäisch zu bewältigender Aufgabe erhält dagegen wachsendes Gewicht.

Anfang 2019 werden als die wichtigsten Themen, die auf europäischer Ebene zu bearbeiten sind: Wirtschaft, Finanzen, Arbeitslosigkeit, Klima und Umwelt werden nahezu gleichwertig gewichtet – die Situation ist offen! Zugleich verweist die Tendenz vor allem auf europäischer Ebene, dass die Klimafrage zu einer neuen polarisierenden Frage werden kann. An der Kraft der Linken wird es liegen, ob sie auch sozial-ökologisch definiert wird.

Die wichtigsten Probleme der EU

Quelle: Standard-Eurobarometer 90, Autumn 2018, p. 13;

Die wichtigsten Probleme des ‚eigenen‘ Landes

Quelle: Standard-Eurobarometer 90, Autumn 2018, p. 17;

Was bedeuten diese Wahlen und was bedeuten sie für die Linken? Zusammenfassende Überlegungen

1.      Der zuvor beschriebene Rechtsruck vollzieht sich weiter unter den Bedingungen der schwächer werdenden bisherigen Volksparteien. Die Rechtsverschiebung der Politik wird auf europäischer Ebene schon jetzt sichtbar und manifestiert sich vor allem in Fragen der Migrations- und Flüchtlingspolitik – insbesondere bei der Grenzsicherung. So erfolgte zum Beispiel der Abbruch des Europäischen Seenotrettungsprogramms Sophia, welches maßgeblich von den Konservativen und SozialdemokratInnen gemeinsam beschlossen wurden. Das erklärte Ziel, die EU und ihre Instrumente zu verändern, wird Teil härtester Auseinandersetzungen. Die Frage, welche Institutionen weiterhin über welche Kompetenzen verfügen sollen, wird dabei im Zentrum stehen. Das heißt es wird nicht nur um policy making-Prozesse, also um konkrete Themenfelder gehen, sondern auch um die Fragen der Verträge, der Institutionen, die stärker direkter Gegenstand der Auseinandersetzungen sein werden. 

2.      Die Grünen konnten gewinnen, weil ihnen der Umgang mit Zukunftsfragen am ehesten zugetraut wird. Das betrifft die Klimafragen, das betrifft aber auch die Fragen der Digitalisierung, und hier insbesondere die Kritik des Urheberrechts mit der Möglichkeit der Installierung von Upload-Filtern. Es betrifft aber auch den Umweltschutz wie beispielsweise der Umgang mit Glyphosat. Zu allen diesen Themen waren Grüne auf europäischer Ebene und vor allem in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden dialogfähig. Die Grünen konnten dabei eine Offenheit gegenüber neuen Themen sowie ihr Image, Umweltschutz- und Klimaschutzpartei zu sein, gut für sich nutzen. Sicher, auch die Linken hatten Umwelt- und Klimaschutz auf ihrer Agenda – u.a. Ausdruck dessen ist die Verabschiedung des Klima-Manifestes der GUE/NLG kurz vor den Wahlen. Aber um als glaubhafter Repräsentant für dieses Thema zu stehen, kam es zu kurzfristig. Die Wahlplattform der EL benannte das Thema zwar, aber ohne es zu entwickeln. Die Ideen des Wahlprogramms von LFI wurden nicht Teil eines europäischen linken Umwelt- und Klimadiskurses.

3.      Eine europäische Linke muss für eine sozial-ökologische Agenda und Wende stehen. Dabei darf sie jedoch keine Konzepte von anderen übernehmen. Sie muss ihre Agenda zusammen mit sozialen Bewegungen, Initiativen und weiteren zivilgesellschaftlichen AkteurInnen eigenständig weiterentwickeln und in einem innerlinken Diskussionsprozess bringen. Dazu aber braucht es dringend neue und offene Räume für breitest mögliche linke Diskurse und Bündnisse, die daraus erwachsen. Der sozialen Frage kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Worin auf diesem Themenfeld der konkrete europäische Gebrauchswert der Linken besteht, wurde im Wahlkampf nicht sichtbar.

Die Linke muss mit diesem Ergebnis ihre eindeutige Niederlage nicht nur annehmen, sondern nach den Ursachen dieser Niederlage fragen. Einfache Antworten gibt es nicht. Es hat nicht eine der unterschiedlichen Strategien oder Parteitypen der radikalen Linken verloren, sondern alle. Einzig der portugiesische Linksblock und die wallonische Arbeiterpartei (PTB) bilden eine Ausnahme, die es verdient, studiert zu werden. Verloren haben insbesondere die spanische Podemos, La France Insoumise, DIE LINKE, Syriza und die KSČM. Hinter diesen konkreten Niederlagen stehen völlig unterschiedliche politische Bedingungen und konkrete nationale Konfliktlagen sowie politische Kulturen. Die Frage, die sich stellt, ist jedoch jene nach strukturellen und strategischen Gemeinsamkeiten, nach neuen Formen strategischer Kooperationen zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Strategie und Agenda. Die Mehrheit der Linken hat bei diesen Europawahlen nationale Wahlkämpfe geführt – auch vor dem Hintergrund der nationalen Stärke gegenüber ihrer europäischen Schwäche. Aber nur wenige haben auf diese Weise gewonnen. So verliert die europäische Linke ihren Gebrauchswert.

4.      Die Linke muss sich mit ihren Methoden des Politischen, den Formen des Politischen auseinandersetzen, darunter mit der Frage, warum ihnen bei Veränderungen von Konfliktlagen in dynamischen Zeiten sich verändernder Mobilisierungen ein notwendiger Strategiewechsel zu wenig gelingt. Sie muss sich die Frage stellen, was die Funktion einer 5%-Partei im Europaparlament ist und was diese angesichts der Herausforderungen leisten müsste. Sie muss sich national und europäisch neu befragen.

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[1] Alle nachfolgenden Zahlen beziehen sich auf Angaben auf der Webseite des Europäischen Parlaments (abgerufen am 27.6.2019).