Ein Gespenst geht um in Europa

Ein Gespenst geht um in Europa. Diesmal das Gespenst einer politischen Wende der Europäischen Union, die durch den Wahlerfolg von SYRIZA und das Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahl auf die Tagesordnung gesetzt ist. Beide bringen eine Veränderung der Machtverhältnisse in Griechenland und Frankreich und möglicherweise in ganz Europa mit sich. Und wieder haben sich alle Mächte des alten Europa zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet: EU-Präsident Barroso, der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank, der deutsche Finanzminister und die Mainstream-Medien, die, wo sie meinen, einen Schwächeren auszumachen, sich auf die Seite des Stärkeren schlagen.
Eines geht aus dieser Tatsache aber hervor: Die Forderung, die SYRIZA im Namen des griechischen Volks erhebt, nämlich die barbarische Sparpolitik zu beenden und den illegitimen Teil der griechischen Staatschuld zu streichen, stellt die gesamte Austeritätspolitik der Europäischen Union in Frage. Was SYRIZA fordert, ist nicht das Ausscheiden Griechenlands aus der Europäischen Union, sondern, und darin besteht die Herausforderung, die Änderung der Politik der Europäischen Institutionen – nicht allein gegenüber Griechenland, sondern gegenüber den europäischen Bevölkerungen.
Was können die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds vorweisen, das eine Fortsetzung der bisherigen Politik rechtfertigt? Trotz der drei von der „Troika“ auferlegten „Sparpakete“ und aller dramatischen sozialen Konsequenzen hat sich seit 2010 die Staatsverschuldung des Landes mehr als verdoppelt. Auf diese Weise weiterzumachen heißt, mit voller Absicht den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs Griechenlands herbeizuführen. Gegen diese fatale Logik richtete sich die Wahlentscheidung des 6. Mai, die SYRIZA zur zweitstärksten politischen Kraft im Parlament werden ließ. Diese Wahrheit wollen Merkel, Barroso und Co. nicht wahrhaben.
Die Botschaft, die sie für Griechenland und die Europäischen Völker haben, lautet: Entweder Ihr akzeptiert die Sparprogramme, die Senkung Eures Lebensstandards, die Zerstückelung des Arbeits- und Sozialrechts, die Zerstörung der öffentlichen Gesundheits- und Bildungssysteme, das heißt, die weitere Steigerung der sozialen Ungleichheit, oder wir schließen Euch von den internationalen Märkten aus. Unterwerfung oder Rausschmiss. So sieht ihre Demokratie aus.
Europa befindet sich seit dem 6. Mai vor einer Weggabelung. Zwei Wege, zwei Logiken. Die eine beinhaltet, ganze Volkswirtschaften und Staaten auf dem Altar der Finanzmärkte zu opfern. Sie bringt Entbehrung und Leid über die Bevölkerungen, aber keinen Ausweg aus der Krise. Im Gegenteil: Sie droht, die europäische Integration und mit ihr die Demokratie zu verschlingen. Die andere erfordert eine Streichung der illegitimen Schulden, eine Sozialisierung des Banken- und Finanzsektors, eine Umverteilung der Einkommen von Oben nach Unten, die Bekämpfung der Korruption und einen ökologisch ausgerichteten Wiederaufbau der europäischen Realökonomien. Europa muss wählen zwischen Austerität oder Wachstum und Beschäftigung. Es bedarf des Bruchs mit der Diktatur der Finanzmärkte und der Abwahl der heutigen Machthaber in den EU-Staaten. Sich dazu zu entschließen, ist das souveräne Recht jedes Volks und aller Völker Europas zusammen.
Zwanzig Massen- und Generalstreiks in allen Teilen Europas, die zahlreichen Massendemonstrationen, die Besetzung der großen Plätze in den Hauptstädten und „Blockupy Frankfurt“ zeigen, dass Millionen Europäerinnen und Europäer diese Änderung der politischen Richtung wollen.
Dazu bedarf es der Mobilisierung in jedem Land sowie der europäischen Solidarität. Schritte zur Sammlung der sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Kräfte auf europäischer Ebene sind in den vergangenen Monaten geglückt. In einem öffentlichen Appell haben anerkannte Sprecher deutscher Gewerkschaften gemeinsam mit bekannten Intellektuellen eine neue Politik gefordert. Ein Prozess in Richtung eines Alternativgipfeltreffens der europäischen Bevölkerungen soll ein unübersehbares Zeichen für eine politische Alternative setzen. Die Partei der Europäischen Linken und das Netzwerk transform! sind Teil dieses Sammlungsprozesses.  
Am exponiertesten Punkt dieses europäischen Kampfes um eine politische Alternative steht heute die griechische Linke. Das Anliegen von SYRIZA ist nicht nur, Widerstand zu leisten, sondern die Herrschaft in Europa zu ändern. Die Einschüchterung der griechischen Bevölkerung durch die „Mächte des alten Europa“ zu vereiteln heißt, an der demokratischen und sozialen Erneuerung Europas zu arbeiten.