Eine neue „Volksunion“? Anmerkungen zum neuen linken Wahlbündnis in Frankreich

Nach der französischen Präsidentschaftswahl im April findet im Juni die Parlamentswahl statt, in deren Vorfeld es Jean-Luc Mélenchon nun gelang, das Wahlbündnis „Nouvelle Union Populaire écologique et sociale“ (Neue ökologische und soziale Volksunion, Nupes) zu schmieden, das sämtliche relevanten linken Akteur*innen umfasst.

Nur 13 Tage brauchte Jean-Luc Mélenchon, um ein Wahlbündnis und eine politische Vereinbarung mit seinen zahlreichen linken Mitbewerber*innen auszuhandeln. Vor einem Jahr beherrschte das Thema eines linken Wahlbündnisses einen großen Teil der öffentlichen Debatte, ohne dass jedoch wirklich eines ins Leben gerufen wurde.

Die Linke stellte sich der Präsidentschaftswahl 2022, als ob die Ergebnisse der vergangenen Wahl auf bloßen Mutmaßungen basiert hätten. Die Grünen (EELV) wie auch die Sozialist*innen (PS) und sogar die Kommunist*innen (PCF) glaubten, dass sie der Vormacht von La France Insoumise (LFI) in der französischen Politik Einhalt gebieten könnten, besonders nachdem die Bewegung in den Lokalwahlen nur moderate Ergebnisse eingefahren hatte. Während des Wahlkampfs sprach sich Mélenchon einige Male gegen eine Allianz mit anderen linken Partner*innen aus. Der Vorsitzende der Union Populaire[1] war der Ansicht, dass ein „auf dem Gipfel der politischen Kräfte“ geschmiedetes Bündnis dem politischen Vorschlag, den er nach jahrelanger Arbeit an seinem Programm bei den Wahlen vertreten wollte, abträglich sei. Er ging davon aus, dass es bei der massiven Mobilisierung der Wähler*innenschaft eher ein Hindernis darstellen würde. Er wettete, dass er eine „Volksunion“ und eine „Einigkeit von unten nach oben“ erreichen könnte, die taktische Wähler*innen und moderatere Linke anziehen würde. 

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Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl wurde klar, dass seine Strategie erfolgreich war. Daher ist es wirklich überraschend, dass es der französischen Politik zum ersten Mal in der Geschichte gelang, eine Vereinbarung zu treffen, die alle linken Kräfte so schnell unter einem Banner vereinigen konnte. Besonders nach einer brutalen politischen Kampagne, im Zuge derer Mélenchon von all seinen Gegenspieler*innen monatelang diffamiert wurde, und obwohl große politische Kluften nicht geschlossen werden konnten, beispielsweise in Fragen der internationalen und europäischen Politik, ob und wie mit dem Kapitalismus nun zu brechen sei oder den Kampf gegen Rassismus und den Laizismus betreffende Fragen. 

Eine Vereinbarung zur Verankerung des Präsidentschaftswahlergebnisses

Unterschiedliche Gründe geben Aufschluss darüber, warum eine politische Vereinbarung und ein Wahlbündnis in weniger als zwei Wochen ausverhandelt werden konnten. Zuallererst war Mélenchons zentrale Bedeutung (und jene seines politischen Vorschlags) durch das eindrucksvolle Ausmaß an Unterstützung, die er am 10. April gewonnen hatte, bestätigt worden. So lag er nach dem ersten Wahlgang nur 1,2 Prozentpunkte hinter Marine Le Pen. Die Union Populaire konnte ihre ehemaligen Gegenspieler*innen somit aus einer Position der Stärke heraus an den Verhandlungstisch holen. Die Grünen, die Sozialist*innen und die Kommunist*innen sind hingegen infolge ihrer enttäuschenden Wahlergebnisse geschwächt, insbesondere vor dem Hintergrund der allgemeinen Frustration in der linken Wähler*innenschaft, die im zweiten Wahlgang wieder mit der Konstellation Macron–Le Pen konfrontiert war. Während also PS, PCF und EELV mit der Chance liebäugelten, sich in der kommenden Parlamentswahl einige Sitze zu sichern, nutzte die Union Populaire die Gelegenheit, ihre zentrale Rolle in der Linken zu untermauern. Sie knüpfte die Verteilung der Abgeordnetensitze eines möglichen Bündnisses an eine politische Vereinbarung, die sich hauptsächlich an ihrem eigenen politischen Programm orientierte und mit der Zusage verbunden war, im Falle eines Wahlsiegs Jean-Luc Mélenchon als nächsten Premierminister zu unterstützen.     

Eine politische Klärung

Die politische Vereinbarung ist als potenzielle Koalition gedacht. Sie würde eine Cohabitation etablieren, also eine Situation, in der sich der Präsident nicht auf eine Mehrheit im Parlament seiner Partei stützen kann, und möchte Jean-Luc Mélenchon und seine politische Plattform als nächstes Regierungsprogramm sehen. Das neue gemeinsame Banner für die kommende Wahl heißt „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (Nupes). Die Aufteilung wurde proportional zu den Ergebnissen der jeweiligen Partner*innen und entsprechend der Anzahl ihrer aktuellen Abgeordneten vorgenommen. Somit wird die Union Populaire in 360 Wahlkreisen Kandidat*innen aufstellen, die Grünen in etwa 100, die Sozialistische Partei in 70 und die Kommunistische Partei in 50. Die größte Stärke der Vereinbarung liegt jedoch auf der politischen Ebene, da es der Union Populaire gelungen ist, ihr eigenes Programm in den Mittelpunkt zu stellen und die anderen Parteien zu einer klaren Positionierung in der Frage zu zwingen, inwieweit sie zu einem Bruch mit dem Neoliberalismus bereit sind. Zahlreiche prominente Mitglieder der Sozialistischen Partei wie François Hollande haben die Vereinbarung beispielsweise öffentlich kritisiert. Yannick Jadot, der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Grünen, gibt sich seit der Wahl zurückhaltend und sieht den Zusammenschluss seiner Partei mit der radikalen Linken eher widerwillig. Es scheint, als würde die EELV mit der Einigung mit Jean-Luc Mélenchon der gemäßigten politischen Haltung Jadots abschwören. Kurz gesagt, hat die Vereinbarung bewirkt, dass die ehemaligen Gegenspieler*innen nun den Großteil seines Programms billigen. Zudem sind sie nach außen hin dem Druck der linken Wähler*innenschaft ausgesetzt, die ein Bündnis mehrheitlich befürwortet, und mit internen Krisen mit ihren rechten Fraktionen konfrontiert, die sich gegen ein solches Bündnis ausgesprochen haben. Und es ist eine historische politische Situation entstanden, die zu einem Wahlerfolg führen könnte – und das, obwohl noch vor einem Monat die Gefahr eines Wahlsiegs der extremen Rechten über dem Land schwebte.   

Eine landesweite Kampagne: auf dem Weg zu einer dritten Präsidentschaftswahlrunde?

So umstritten Jean-Luc Mélenchon auch scheinen mag – seine strategischen Talente sind keinesfalls zu unterschätzen. Für die bevorstehende Herausforderung hat er sich bereits einen weiteren Trick überlegt. Der gescheiterte Präsidentschaftskandidat, der Nupes in den Kampf führt, nutzt seit dem Urnengang einen institutionellen Kniff: Er bewirbt die Parlamentswahl als dritte Runde der Präsidentschaftswahl und setzt dabei auf die Frustration der Wähler*innen in der breiten Bevölkerung und der Linken und die Chance, die das Wahlbündnis eröffnet. Da der oder die Präsident*in in der Nationalversammlung normalerweise den oder die Vorsitzende*n der stärksten Partei zum oder zur Premierminister*in ernennt, hat Mélenchon die Bevölkerung dazu aufgerufen, für eine Mehrheit der Nupes-Abgeordneten zu stimmen und damit praktisch ihn zum Premierminister zu „wählen“. In einer Wahl, die traditionell als „577 Kommunalwahlen in einer“ gilt, hofft er, mit einer landesweiten Kampagne insbesondere auch jene Wähler*innenschaft zu mobilisieren, die nach der Präsidentschaftswahl bekanntlich wieder in die Enthaltung zurückfällt. Erstmals seit vielen Jahren könnte die radikale Linke nun ihre schwache Präsenz in der französischen Nationalversammlung überwinden. Dann wäre es selbst mit dem aktuellen antidemokratischen institutionellen Rahmen nicht möglich, sie in die Position einer kleinen Opposition zu drängen. Einige Optimist*innen träumen gar von einem Wahlsieg. Eines ist jedoch sicher: Die tiefgreifende politische Krise in Frankreich ist noch nicht vorbei. Jedes neue politische Ereignis scheint die herkömmlichen Tendenzen und Praktiken zu destabilisieren und alle Beteiligten kämpfen Tag für Tag aufs Neue um ihre eigenen Aussichten für die absehbare Zukunft.

Anmerkung:

[1] Dieser Name steht nicht nur für die politische Kampagne von Jean-Luc Mélenchon 2022, sondern bezeichnet auch die vorgeschlagene Strategie und das Netzwerk aus Aktivist*innen rund um seine Kandidatur, das Menschen jenseits von La France Insoumise zusammenführt.

Zum Weiterlesen:

Wahlen in Frankreich: Die Dreiteilung des politischen Spektrums, von Gala Kabbaj