Ein neues Kapitel im politischen Leben Frankreichs

Nach der Katastrophe von 2002, wo als Folge der massiven Unzufriedenheit mit der Regierung der „Gauche plurielle“ Jospin bereits beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl eliminiert wurde und nur mehr Chirac und Le Pen in die Stichwahl kamen, gibt es wieder eine von der PS geführte Regierung. Und zum ersten Mal seit dem Abtritt von François Mitterrands 1995 hat Frankreich wieder einen sozialdemokratischen Präsidenten. Dazu kommt, dass erstmals in der 5. Republik in der Folge der Stärke der Linken in den Lokal- und Regionalgremien der Senat eine linke Mehrheit hat. Womit alle institutionellen Hebel im Wesentlichen von PS-Vertretern geleitet werden. 
Mit 44% ist die Rekord-Stimm­enthaltung ein weiteres Indiz für die Entlegitimation der politischen Repräsentanz.
Das politische System mit dem Vorrang der Präsidentschaftswahl, dem Mehrheitswahlrecht ohne Proportionalität, dem ständigen Druck für eine der Großparteien, bereits im 1.Wahlgang eine „nützliche Stimme“ abzugeben, befördert das Zweiparteiensystem. 80% der Parlaments- und Senatssitze sind in Händen der beiden großen Parteien. Wieder einmal wird deutlich, wie berechtigt das vom Front de Gauche (FdG) vertretene Projekt einer neu konzipierten „6. Republik“ ist.
Die Wahlergebnisse sind widersprüchlich. In 90% der 577 Wahlkreise erzielt der FdG mehr Stimmen als die PCF-Kandidaten bei den letzten Wahlen, mit einem Durchschnitt von 6,9% (4,5% 2007) und überdurchschnittlichen Ergebnissen vor allem in den größeren Städten. Gleichzeitig legt die PS mächtig zu und überrundet damit auch wieder antretende Abgeordnete des FdG, die im Allgemeinen sehr gut abschneiden (um die 30%), sowie Jean Luc Mélenchon (21%) in einem Wahlkreis in Nordfrankreich. Endeffekt: Die PS (mit von ihr abhängigen Verbündeten) erreicht allein die absolute Mehrheit (316 Abgeordnete), ohne Grüne (17) und FdG (10). Das war Aubrys Ziel und hat auch die Verhandlungen um gemeinsame Kandidaturen der gesamten Linken in Wahlkreisen mit FN-Gefahr zum Scheitern verurteilt. Allerdings kamen J. L. Mélenchon (4 Millionen Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen) viele Stimmen abhanden, einerseits durch Stimmenthaltung, aber auch, weil ca. ein Drittel der WählerInnen bereits in der 1. Runde PS wählten. Die landesweite Mobilisierung um den Kandidaten Mélenchon bei der Präsidentschaftswahl konnte bei der in Wahlkreise aufgesplitterten Parlamentswahl nicht wiederholt werden. Die Grünen erzielen Verbesserungen nur dort, wo sie in Folge ihres Abkommens auf die Unterstützung der PS zählen konnten und stagnieren im Rest der Wahlkreise. Die extreme Linke tritt bei dieser Wahl kaum in Erscheinung.
Rechts sind UMP (229 Mandate) und auch das Zentrum („Modem“, 2 Mandate) abgestürzt. 2 FN-Abgeordnete (darunter Jean-Marie Le Pens Enkelin) und ein Vertreter der extremen Rechten ziehen mit Mandaten aus Südfrankreich, wo ihr Einfluss stark konzentriert ist, ins Parlament ein. Alle Komponenten der Rechten bereiten sich auf ihre Oppositionsrolle vor und setzen auf eine kommende Desillusion. Der FN sucht eine Rekomposition der Rechten in ihrer derzeitigen Krise zu beschleunigen und dabei eine möglichst zentrale Rolle zu spielen, um innerhalb der Rechten die Hegemonie bei den Wahlen 2017 zu erreichen. In der UMP wird es zu einer Auseinandersetzung zwischen zumindest zwei Richtungen kommen: eine klare Absage an den FN, oder das Eingehen von Allianzen. Sarkozys Rechtsverschiebung der UMP hat die zweite Variante deutlich gestärkt.
Was wird die PS aus ihrer Machtfülle machen? Niemals standen so viele politische Hebel zur Verfügung, um konkret die Dominanz der Oligarchie in Frankreich und Europa zu bestreiten. Hollandes Programm will in seiner derzeitigen Konzeption die herrschende Logik wohl korrigieren, aber ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Härte der allgemeinen und europäischen Krise wird Frankreich noch stärker erfassen, das Schlimmste steht hier noch bevor. Bereits am Tag nach der Wahl wird von „notwendigen Anstrengungen“ und „Opfern“ gesprochen, die – im Unterschied zur Ära Sarkozy – „gerecht verteilt“ werden sollten. Der französische Präsident hat massiv in die griechischen Wahlentscheidungen eingegriffen, zu einer sogenannten „Pro-Euro-Wahl­entscheidung“ aufgerufen und danach gratuliert. Angesichts des EU-Gipfels Ende Juni, wo Bankunion, Budgetunion, politischer Föderalismus am Programm stehen, kann bisher in Hollandes Wachstumsdiskurs keine Absage an den Austeritätskurs ausgemacht werden.
Für eine Regierungsbeteiligung sind nach Meinung aller Komponenten des FdG die Bedingungen nicht gegeben. Das bedeutet, dass der FdG sich als Teil der linken Parlamentsmehrheit, aber nicht der Regierungsmehrheit sieht.* Auf Seiten der engagierten Linken wird es strategisch darum gehen, möglichst viel Druck in und außerhalb der Institutionen zu erzeugen, um das Pendel nach links zu verschieben, insbesondere in den Fragen der europäischen Konstruktion, der Löhne und Sozialstandards, der Arbeitsplätze, des öffentlichen Sektors und der Demokratie. Die Weiterentwicklung des Programms des FdG „L’Humain d’abord“ unter Einbeziehung der im Wahlkampf neu gegründeten Netzwerke und Arbeitsgruppen ist geplant. Hollande und die PS haben im Wahlkampf kaum etwas unternommen, um die Hegemonie nach links zu verschieben und sich vor allem auf den Wunsch, Sarkozy los zu werden, gestützt. Die Kampagne von Mélenchon hat einige linke Akzente gesetzt, die es jetzt weiter zu entwickeln gilt. Ein Scheitern der sozialdemokratischen Präsidentschaft und Regierung könnte nicht nur dramatische ökonomische und soziale Auswirkungen haben, sondern auch zu einer deutlichen Stärkung der extremen Rechten und einer politischen Katastrophe führen. Für die Linke bedeutet das eine große Herausforderung, nämlich eine gesellschaftspolitische Alternative glaubwürdig und hegemoniefähig zu machen.
Eine weitere Entwicklung des FdG als politische Konstruktion wird von allen Komponenten sowie den nicht parteipolitisch organisierten MitstreiterInnen gewünscht, wobei wohl in der nächsten Zeit viel diskutiert und experimentiert werden wird, um gangbare Wege zu finden. Auch die einzelnen Parteien, die Teil des FdG sind, werden sich selbst weiterentwickeln müssen, um einen entsprechenden Beitrag zu einer neuen Dynamik leisten zu können.
* Heft Nr. 7 der Zeitschrift „Sozialismus“ widmet den Ergebnissen der französischen Wahlen einen Schwerpunkt.