Friedensnobelpreis 2012 für die EU: Was das Nobelpreis-Komitee „übersehen“ hat

Die Mitglieder des Komitees, die ihre angesehene Auszeichnung an die Europäische Union verliehen haben, ignorierten allerdings mit voller Absicht den Bericht der „27“, was die Bilanz der EU in ihrer ureigensten Domäne, der Friedenserhaltung, betrifft. Drei aussagekräftige Beispiele genügen, um zu zeigen, dass die Außen- und Sicherheitspolitik der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ihrer Verpflichtung zu einem friedlichen Europa und einer friedlichen Welt widerspricht.  

Erstes Beispiel: der Irak-Krieg von März 2003. Die Mehrheit des UN-Sicherheitsrates, die UN-Inspektoren vor Ort, das französische Staatsoberhaupt und der deutsche Bundeskanzler haben sich ebenso wie die 10 Millionen DemonstrantInnen, die am 15. Februar auf die Straße gingen, gegen den Krieg ausgesprochen. Acht andere Staaten der EU haben mit Washington gemeinsame Sache gemacht und Colin Powells bei den Vereinten Nationen vorgebrachter Staatslüge Glauben geschenkt. Von da an haben diese Länder innerhalb der EU den Ton angegeben. Somit hat ab Juni 2003 die EU in ihrer Gesamtheit einen Text angenommen, der die (noch immer in Kraft befindliche! und) George W. Bush vorgelegte „Europäische Sicherheitsstrategie“ noch vor ihrer endgültigen Annahme festlegte. In diesem Dokument werden viele gefährliche Konzepte vom amerikanischen Kriegsherrn übernommen, z.B., wenn der Text sagt, dass die militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU eine „wichtige Kraft für das Gute in der Welt“ sei! Einen Beleg dafür, was dies bedeutete, haben wir dann in Afghanistan präsentiert bekommen…

Zweites Beispiel: der Nahe Osten, wo die Straflosigkeit der israelischen Führung und das politische Im-Stich-Lassen des palästinensischen Volkes einen der Hauptgründe für die Unsicherheit in der Welt darstellen. Im Dezember 2005 legten die Leiter der diplomatischen Mission der EU-Staaten in Ost-Jerusalem dem Europäischen Rat einen detaillierten Bericht vor, der aufgrund der darin enthaltenen Beispiele illegaler Praktiken der israelischen Autoritäten äußerst alarmierend war und auf die Errichtung eines palästinensischen Staates ausgerichtet war. Sie empfahlen den europäischen Führern eine ganze Reihe an politischen Initiativen, die im Einklang mit den gültigen Resolutionen der Vereinten Nationen standen. Dieser Bericht wurde weder veröffentlicht noch berücksichtigt und erlitt somit dasselbe Schicksal wie all die anderen Berichte, die in den darauffolgenden Jahren entstanden sind. Im Gegenteil, die EU hat gerade die Kriegstreiber belohnt, auf spektakuläre Weise die 60 verschiedene Bereiche umfassenden bilateralen Beziehungen zwischen der EU und Israel bestätigt, bspw. im Sektor elektronische Kommunikation oder bei der Zusammenarbeit der Polizei. Der symbolische und politische Aspekt dieser „Gesten“ dient sicher nicht der Friedenssicherung, sondern verharmlost Besatzung, Kolonisierung, Erniedrigung und Krieg.

Drittes Beispiel: die Sicherheit des europäischen Kontinents selbst. Im Juni 2008 versuchte der gerade ins Amt gewählte russische Präsident Medwedew Eindruck zu hinterlassen. Er schlug den EU-Ländern und dem „Westen“ insgesamt vor, Verhandlungen zur gemeinsamen Unterzeichnung eines „gesamteuropäischen Sicherheitsvertrags“ aufzunehmen. Dieser sollte alle Sicherheitsfragen des Kontinents, Rüstungskontrolle und Abrüstung beinhalten. Nur eine Bedingung wurde darin gestellt: dass die NATO ihre Ausdehnung Richtung Osten einstellt. „Die grundsätzliche Sorge Medwedews, ein in zwei Teile geteiltes Europa (…) scheint nachvollziehbar“, schrieb Fabio Liberti vom Institut für Internationale Beziehungen (ISIS) in Le Monde Diplomatique. Die EU hat daraufhin nicht einmal sondierende Gespräche über diesen Vorschlag eröffnet. Stattdessen bevorzugte sie es, die Installation des Raketenabwehrschilds auf europäischem Boden zuzulassen, selbst um den Preis, dass dies die Spannungen intensivierte und das Wettrüsten neu entfachte.

Das gibt eine Vorstellung davon, welche Veränderungen die EU und ihre Mitgliedsstaaten tatsächlich durchmachen müssten, wenn sie des Friedensnobelpreises wirklich würdig werden wollen.

Francis Wurtz ist Ehrenmitglied des Europaparlaments und war Vorsitzender der GUE/NGL-Gruppe im europäischen Parlament.