Wahlen in der Türkei: Es gibt Hoffnung

Die türkischen Parlamentswahlen brachten ein brisantes Ergebnis: Seit Einführung der äußerst undemokratischen Sperrklausel von 10% schaffte es die Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi – HDP), eine linke und pro-kurdische Partei, diese zum ersten Mal zu überwinden.

Beinahe alle Meinungsumfragen prognostizierten der HDP vor der Wahl einen Stimmenzuwachs, jedoch wurde ein Ergebnis vorhergesagt, das nur knapp über der Schwelle läge. Mit ihrer breiten Aufstellung von Kandidat_innen schaffte es die HDP jedoch, im ganzen Land auf 13,1% der Stimmen zu kommen und daher die 10%-Hürde mühelos zu passieren.

Während des Wahlkampfs kam es zu mehr als 100 Angriffen auf HDP- Parteilokale und Parteitreffen; in zwei Lokalen und bei einem Treffen kam es zu Bombenexplosionen, bei denen drei Menschen ums Leben kamen und viele verwundet wurden. Auch wurden dutzende von HDP-Wahlbeobachter_innen nur zwei Tage vor den Wahlen unter Arrest gestellt.
Trotzdem zeigen die Wahlergebnisse, dass es zu einer starken Neuausrichtung der islamistischen Regierungspartei Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi – AKP) gegenüber der HDP und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi – MHP) gekommen war, sowie zwischen der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi – CHP) und der HDP.
Im Vergleich zu den vergangenen Parlamentswahlen verlor die AKP von 49,5% (327 Mandate) auf 40,9% (258 Mandate) und die CHP von 25,9% (135 Mandate) auf 25% (132 Mandate). Die MHP legte von 13,0% (53 Mandate) auf 16,3% (80 Mandate) zu, und die HDP schaffte statt den 6,5% (35 Mandate) nunmehr 13,1% (80 Mandate).

Trotzdem ging die AKP in 57 von 81 Provinzen als Siegerin hervor. Die CHP gewann in zehn, die MHP in einer und die HDP in 14 Provinzen. Das Ungleichgewicht zwischen Stimmenanzahl und der Anzahl an gewonnene Provinzen geht auf die ungleichmäßige Stimmenverteilung zurück. Die HDP schlug ihre Mitbewerberinnen in beinahe allen großen kurdischen Städten bei weitem. Gleichzeitig konnte sie in Istanbul (der größten türkischen Stadt), Ankara (der Hauptstadt), Izmir (der drittgrößten Stadt), Bursa und Kocaeli (Industriestädte) und Mersi, Adana und Antalya im Süden des Landes Mandatszugewinne verzeichnen.
Somit schaffte es die AKP zum ersten Mal seit 2002 nicht auf die 276 Mandate zu kommen, die für die absolute Mehrheit nötig gewesen wären. Sie ist auch für eine Verfassungsänderung nicht stark genug (367 Mandate wären nötig gewesen) oder um ein Referendum zu Recep Tayyip Erdogans Wunsch, das Land auf ein Präsidialsystem umzustellen (und selbst Präsident zu bleiben), abzuhalten (330). Die AKP-Regel in Bezug auf die dritte Amtszeit als Parlamentsabgeordnete_r und die Zugewinne auf der Seite der MHP und HDP haben darüber hinaus bewirkt, dass viele prominente Mitglieder der AKP ihre parlamentarische Immunität verloren haben und nun mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert werden.

Das Land steht nun vor der Ungewissheit, welche Koalitionen sich mit dieser neuen Parteikonstellation ergeben könnten. Durch die politische und gesellschaftliche Polarisierung in der Gesellschaft verbreitete sich auf manchen Seiten regelrechter Hass gegen die AKP und Recep Tayyip Erdogan. Alle anderen Parteien führten etwa als Wahlversprechen an, die Macht der AKP eindämmen zu wollen. Die MHP kann kaum akzeptieren, im selben Parlament mit der HDP sitzen zu müssen, und würde somit auch niemals eine Koalition mit der HDP eingehen; CHP und HDP verfügen nicht über genügend Mandate, um eine Regierung zu bilden und Minderheitsregierungen sind in der Türkei nicht üblich.
Was auch immer sich nun ergibt, am Morgen des 8. Juni hatte die türkische Bevölkerung Grund zur Freude. Die AKP hatte beinahe 10% ihrer Stimmen verloren und die HDP hatte die 10%-Hürde geschafft. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der beinahe jeden Tag im Fernsehen aufgetreten war, hielt keine Siegesrede oder trat öffentlich auf.
Innerhalb von 45 Tagen soll nun eine neue Regierung gebildet werden; andernfalls ist es die Pflicht des Präsidenten, vorgezogene Wahlen ausrufen.
Die kommenden Wochen sind also für die Zukunft des Landes absolut entscheidend.