Flüchtlinge werden zu Studierenden

Der Ort der Sommerakademie war nicht zufällig gewählt: Die Ministerin wollte damit ein Symbol für den Frieden setzen. Die Kurse wurden in der Stadt Olympia abgehalten, dem Austragungsort der Olympischen Spiele in der Antike. Während der Spiele waren damals alle Kriege ausgesetzt worden, die zu jener Zeit geführt wurden. Mit dem gewählten Datum nahm man außerdem auf die heurigen Olympischen Spiele in Rio de Janeiro Bezug, an denen erstmals ein aus Flüchtlingen und Asylwerber_innen bestehendes Team teilnahm.
Die Kurse, die am Campus der Internationalen Olympischen Akademie abgehalten wurden, wurden von 29 Studierenden im Alter zwischen 18 und 30 Jahren besucht. Sie stammten aus dem Iran, Irak, Afghanistan, Mali und Griechenland. Um die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Sommerakademie zu erfüllen, mussten die Studierenden Englischkenntnisse vorweisen und im attischen Raum – dem Umland Athens – ansässig sein; außerdem wurde auf eine ausgeglichene Geschlechterbilanz geachtet.
Die Migrant_innen, die an der Initiative teilnahmen, kamen aus Einrichtungen in der Nähe Athens. Für sie stellte die Sommerschule eine Möglichkeit dar, ihren Status als Flüchtling abzulegen und ins Studierendenleben einzutauchen.

Das Programm

Die Kurse wurden von Pädagog_innen gehalten, die vom Europarat entsandt worden waren, und behandelten die Themen Menschenrechte und Bürger_innenrechte. Auch griechische Universitätsdozent_innen hielten auf freiwilliger Basis Griechisch- und Englischkurse, sowie Kurse zu den Themen Kultur und europäische Geschichte und – um den Veranstaltungsort zu würdigen – Sport.
Abseits der Kurse bot die Sommerschule die Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. Auch auf persönlicher Ebene fanden die Studierenden und Lehrenden – deren Altersunterschied teilweise nur gering war – zusammen. Es gab gemeinsame Abendessen und Feste, bei denen unter der Anleitung der Studierenden traditionelle Tänze aus deren Herkunftsländern getanzt wurden,  was zur Überwindung der Sprach- und Kulturbarriere beitrug.

Schulen in Flüchtlingsunterkünften

Vorgestellt wurde auch die beeindruckende Initiative des griechischen Bildungsministeriums, in jeder Flüchtlingsunterkunft Schulen für Kinder bis 6 Jahre und Klassen in nahegelegenen Schulen für Kinder im Pflichtschulalter einzurichten.
Wir sind uns natürlich alle darüber im Klaren, ganz besonders auch die griechische Regierung, dass die Flüchtlingskrise in Griechenland ein weitaus komplexeres Eingreifen und wirtschaftliche und soziale Maßnahmen erfordert, die über ein alleiniges Engagement Griechenlands hinausgehen. Dieses Signal hat jedoch große politische Bedeutung: In Kultur und Bildung zu investieren bedeutet, Bürger_innenbewusstsein zu entwickeln und gibt Menschen soziale Freiheit; ein universales Recht.

Die Sommerakademie & transform!

Das griechische Ministerium anerkennt den jahrelangen Einsatz der Stiftung transform! europe im Kampf für ein Europa, in dem Menschenrechte respektiert werden, und wollte uns auch in diese Initiative einbinden. Auch an der Schlussdiskussion, bei der es um die Frage ging, wie dieses Projekt Verbreitung finden könnte, nahmen wir teil.
Bei der Schlussveranstaltung waren die Vize-Bildungsministerin, der Generalsekretär für Migrant_innen, die Rektoren der Universitäten Thessaloniki, Patras und Thessalien, der Vize-Rektor der Universität Athen, der Vize-Präsident der Freien Universität Griechenlands, der Präsident des Wissenschaftlichen Komitees für Bildung für Flüchtlinge, Vertreter_innen des Ministeriums, Lehrende der Universität und ein Vertreter des Europarats anwesend. Dabei wurden den anwesenden Studierenden auch die Funktionsweise des griechischen Universitätssystems sowie die Zugangsmöglichkeiten für ausländische Studierende erläutert.
transform! europe dankte im Zuge des eigenen Beitrags der Initiative, da sie Flüchtlingen gegenüber einen alternativen Ansatz wählt. Ganz besonders aber bedankte sich transform! bei der griechischen Bevölkerung, die auch im Augenblick größter Not ihre Arme ausbreitet und ihr Herz öffnet. So äußerte das Land eine Seele, die Europa fremd zu sein scheint.

Europa muss zwischenmenschliche Beziehungen wertschätzen

Der Mittelmeerraum, die Wiege unserer Zivilisation, ist ein Ort, an dem sich immer schon unterschiedliche  Kulturen vermischten und dies auch heute noch tun. Grund dafür sind die Migrationsbewegungen von Menschen, die aus Not oder aus wirtschaftlichen Gründen das Mittelmeer und die Landesgrenzen überqueren. Europa stellte jahrzehntelang einen Stabilitätsfaktor zwischen Nahost und dem Mittelmeerraum dar; heute ist das anders. Wenn Europa überleben möchte, muss es wieder diese zentrale Vermittlungsposition einnehmen und die zwischenmenschlichen Beziehungen wertschätzen, die diese gegenseitigen Einflüsse aufbauen.
Wir leben in einer seltsamen Zeit, in der sich Kapital und Geld frei bewegen können, die Menschen jedoch dazu gezwungen werden, in ihrer aktuellen Situation zu verharren. Sie haben so keine Möglichkeit, eine bessere Zukunft für sich und ihre Familie zu suchen. Die Europäische Union finanziert einerseits Forschungs- und Austauschprojekte zwischen den Universitäten der Mitgliedsländer, während sie es ablehnt, Studierende aufzunehmen und zu integrieren, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen die Universitäten ihrer Heimatländer verlassen haben.

Von Integration profitieren alle

Das Pilotprogramm im Rahmen dieser Sommerakademie zielt darauf ab, dieser Heuchelei ein Ende zu setzen und den Wert anzuerkennen, den die Integration dieser Studierenden in unsere Universitätssysteme für uns hat. Mit dieser Verbindung wird schließlich auch eine direkte Beziehung mit den Herkunftsländern der Studierenden hergestellt, so wie das auch der Fall bei europäischen Emigrant_innen war, die sich auf ihrer Suche nach einer besseren Zukunft im Ausland niederließen. Sie stellten ebenfalls eine Beziehung her, die sich sowohl über wirtschaftliche Verbindungen etablierte, als auch zu Erfolgen führte, die der kulturelle Austausch mit sich brachte.
Kultur, Schule und Universität spielen in diesem Integrationsprozess eine wichtige Rolle. Daher ist es das Ziel des griechischen Bildungsministeriums, diese Praxis – die auch transform! unterstützt – zu verbreiten und auch an anderen Universitäten umzusetzen, um so die Teilnahme einer größeren Anzahl von jungen Migrant_innen und europäischen Studierenden zu ermöglichen.

Mit geschichtlichem und kulturellem Wissen zu einer europäischen Identität

Auch ich habe an einer Vorlesung über griechische Geschichte teilgenommen. Dabei hat sich meine Überzeugung gefestigt, dass mithilfe von Wissen über die Geschichte und Kultur eines jeden Landes eine echte europäische Identität entsteht, die die kollektive Identität bereichert. Für eine solche Identität braucht es junge Menschen, um ein alternatives Modell nicht nur von einem kulturellen, sondern auch einem wirtschaftlichen Standpunkt aus aufzubauen. Die Lebensumstände der Migrant_innen und der europäischen Bürger_innen zu ändern bedeutet, den Nutzen der hegemonischen Logik in den menschlichen Beziehungen auszuschalten. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, eine Allianz mit jenen aufzubauen, die vor Krieg und Hunger fliehen und in Europa eine Chance sehen, ihren Traum zu leben. Bei der Schaffung eines gemeinsamen Europas und einer besseren Welt hat Antonio Gramsci nicht an Aktualität verloren. Er forderte im Dunkel seiner Zeit die jungen Menschen mit folgenden Worten zur Fortbildung auf: „Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit“.
Aus dem Italienischen von Veronika Peterseil